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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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und begann die Treppe hinab zu gehen.
    „Wie schön euch zu sehen.“ Die Worte fielen automatisch von seinen Lippen, als er seinen Eltern gegenüberstand, die ihn ohne ein Lächeln musterten.
    Helenas Augen flogen zu Christian und dann wieder zurück zu ihm.
    „Es ist auch schön, dich zu sehen“, sagte Hannibal und streckte ihm förmlich seine Hand entgegen. „Hast du deine Arbeiten beenden können?“
    Olaf nickte, schüttelte die angebotene Hand kurz, bevor er sie rasch wieder losließ, seine Hände hinter dem Rücken faltete.
    „Ich kam gut vorwärts.“
    Hannibal blickte zu Christian und in diesem Moment schallte ein Donnerschlag, ließ das Gemäuer erbeben.
    „Hat Christian dich gestört?“
    Olaf schüttelte den Kopf. Das Gewitter kam näher, er konnte den erlösenden Regen bereits in der Luft fühlen.
    „Ganz und gar nicht“, antwortete er. „Er war mir eine große Hilfe.“
    „Tatsächlich?“ Hannibal zog seine Augenbrauen hoch und Olaf spürte die Skepsis des Vaters wie Druck auf seiner Lunge.
    Er holte tief Luft. „Ja wirklich“, bestätigte er dann und warf einen Blick zur Seite auf Christian, der mit hängendem Kopf neben ihm stand. „Ohne ihn wäre ich nicht so weit gekommen.“
    „Natürlich nicht“, warf Helena ein und zuckte gleich darauf zusammen, als ein weiterer, dieses Mal erheblich lauterer Donnerschlag das Haus erschütterte. „Hast du dich um den Wagen gekümmert, Liebling?“
    Hannibal nickte. „André fährt ihn weg.“
    Er wandte sich an Olaf. „Du hast doch eine Fahrgelegenheit.“
    Olaf schloss für eine Sekunde die Augen.
    „Natürlich.“ Er räusperte sich. „Ich sollte dann wohl.“
    „Du solltest keine Zeit verlieren“, bestätigte Hannibal. „Es tut mir leid, dass wir deine Abreise so lange hinausgezögert haben. Im Grunde wollten wir früher eintreffen, dir mehr Gelegenheit geben, dich mit deinem neuen Wirkungskreis vertraut zu machen.“
    „Es war schön, dich wiederzusehen, mein Junge“, lächelte Helena ihn nun doch an. „Wir werden versuchen, das sobald wie möglich zu wiederholen.“
    „Das würde mich freuen.“ Olafs Blick wanderte von der immer noch halb offen stehenden Eingangstür, die geradezu darauf zu warten schien, dass er sie durchschritt, zurück zu seinen Eltern, und zuletzt zu seinem Bruder.
    Er lehnte sich zu Christian und legte ihm die Hand auf die Schulter, sah ihm ins Gesicht, so fest es ihm möglich war, bemühte sich die zitternde Unterlippe des Jüngeren zu ignorieren.
    „Pass auf dich auf“, sagte er und verwünschte seine eigene Stimme für ihre Brüchigkeit.
    Und dann ging er. Als er vor die Tür trat, schlug ein Blitz in einiger Entfernung ein. Er hörte es zischen und nur kurz danach den Donner.
    Die Tür schlug hinter ihm zu und Olaf gelang es, den Weg zu seinem Wagen noch im Trockenen zurückzulegen.
    Erst als er hinter dem Steuer saß, als vereinzelte schwere Tropfen sich im Handumdrehen in einen rauschenden Schwall herabstürzenden Wassers verwandelten, erst dann erlaubte Olaf sich vornüber zu sinken und seinen Tränen ihren Lauf zu lassen.
    Ob es Schuldgefühle waren, Trennungsschmerz oder der Verlust von etwas, das er sich nicht auszusprechen getraute, spielte keine Rolle. Sein Leben ging weiter. Sein Weg stand klar vor ihm.
Er hatte nur noch diesen Moment um inne zu halten.
    *
    Es blieb bei diesem Moment.
    Die folgenden Monate vergingen in einem Sturm von Neuerungen, sie flogen dahin, rasch und geschäftig. Geschäftig genug, dass er nicht zum Ausruhen, nicht zum Nachdenken kam, nicht dazu, Christian zu vermissen.
Nur manchmal, wenn er abends unterwegs war und zusah, wie seine Kollegen sich nach einem Abenteuer für die Nacht umsahen, nur dann fragte er sich, was mit ihm los war.
    Was mit ihm geschah, wenn er nicht mehr den hübschen Frauen nachsah, die ihm ihre Blicke schenkten.
    Sondern wenn seine Augen manchmal ein wenig zu lange auf einem jungen Mann hängen blieben, dessen Frisur ihn an Christian erinnerte, dessen Gestalt schmächtig schien wie die seines Bruders, oder dessen Kleidung locker an ihm herunterhing, so als kümmerte er sich nicht im Geringsten darum, wie er aussah.
    Und doch sagte Olaf sein Gefühl, dass sowohl diese jungen Männer als auch Christian eine gute Vorstellung davon besaßen, wie sie aussahen, wie sie wirkten, auf ihn wirkten.
    Junge Männer, die offen flirteten, die ihm, sobald ihnen auffiel, dass er sie bemerkte, ihre Blicke zuwarfen.
Blicke, die er sonst nur von Frauen zugeworfen

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