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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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sich.
    Wie oft war er so aufgewacht, dies sollte, durfte nichts mit Christians Anwesenheit in seinem Bett zu tun haben.
    Trotzdem konnte Olaf es nicht vermeiden, dass seine Augen den Körper des anderen hinunter folgten und an der deutlichen Ausbuchtung der locker sitzenden Pyjama-Hose hängen blieb.
    ‚Nur eine Körperfunktion‘, dachte er angestrengt. ‚Etwas Natürliches, etwas, worüber ich mir nicht den geringsten Gedanken machen sollte. Im Gegenteil, etwas, worüber nachzudenken, ich nicht einmal erwägen dürfte.‘
    Und es gelang ihm seine Augen abzuwenden und einen Versuch zu starten, aufzustehen, obwohl sich der mit dieser Aktion einhergehende Schwindel bereits ankündigte.
    „Olaf?“
    Christians Stimme klang verschlafen und so verwirrt, wie Olaf sich fühlte, als er sich zu dem Jüngeren umdrehte.
    Dieser stützte sich auf die Ellbogen auf und sah ihn groß an. Dann erst flog sein Blick durch den Raum und ein leises ‚Oh‘ entkam Christians Lippen.
    Olaf sagte nichts, starrte nur zurück, gefangen in dem dunklen Blick der schönen Augen.
    Christian räusperte sich verlegen. „Entschuldige bitte“, flüsterte er dann. „Ich konnte einfach nicht einschlafen. Und… und da dachte ich…“
    Olaf schluckte wieder, nickte dann. „Ist schon in Ordnung“, murmelte er in Ermangelung einer Antwort und fügte unnötigerweise hinzu: „Es war unsere letzte Nacht.“
    „Ja.“ Christian sah ihn an, als tauchte er in Olafs Seele und dieser wusste, dass er ihn verstand, ihn zu gut verstand.
    „Du solltest gehen“, sagte Olaf leise und widerstrebend. Mit einem nur allzu bedauernden Seufzen, aber dennoch gehorsam schlüpfte Christian aus dem Bett.
    Olafs Blick folgte dem Jungen, als er aufstand, sich streckte und mit den Händen durch sein Haar fuhr.
    Schließlich, ohne sich umzusehen, verschlafen auf die Tür zuging, vor dieser noch einen Moment wartete, als wollte er noch etwas sagen.
    Olaf sah zu, wie seine schmalen Schultern sich anhoben und dann langsam absackten, als Christian sich offensichtlich anders entschied, die Tür öffnete, und hinausging, still und beinahe lautlos, sich der morgendlichen Ruhe des Hauses anpasste.
    Erst als die Tür hinter ihm zuklappte, schloss Olaf seine Augen, ließ sich zurück auf die Matratze sinken.
    Seinen Lippen entfuhr ein leises Stöhnen und er wusste in diesem Augenblick nicht, wollte es nicht wissen, welches Gefühl diesen Laut verursachte.
    Olaf schluckte trocken und zwang sich dann aus dem Bett.
    Vor dem Spiegel blieb er stehen. Sein Haar stand in alle Richtungen ab, zerzaust vom Schlaf, von Träumen, an die er sich nicht erinnern konnte. Seine Augen blickten groß und traurig und Olaf dachte zum wiederholten Male an die verblüffende Ähnlichkeit, die ihn mit seiner Mutter, ebenso wie mit seinem Bruder verband.
    Dieselben dunklen Augen wie dieser, dasselbe volle Haar. Nur, dass ihm ein erwachsener Mann im Spiegel gegenüber trat. Kein Halbwüchsiger, kein aufgeschossener Junge, der noch alles vor sich hatte. Der ausprobierte und experimentierte, der Freiheiten kannte, die ihm sein Lebtag fremd gewesen waren.
    Als spiegelte Christians schlaksige Erscheinung die Richtungen wieder, in die er sich noch wenden konnte, die Möglichkeiten, die ihm offen standen.
    Er selbst hatte sich dagegen immer mit beiden Beinen fest im Boden verankert gefühlt, eher als der stämmige Typ empfunden. Als jemand, der sich nicht wenden und drehen konnte, dem es nicht offen stand, die Richtung zu ändern. Im Gegenteil, sein Weg war vorgezeichnet, und das war gut so.
    Wenn er dieses Haus verließ, erwartete ihn keine Überraschung. Sein Leben lag bis ins Detail geplant vor ihm und er sah keine Chance auch nur eines dieser Details zu ändern.
    Olaf seufzte und strich das widerspenstige Haar glatt. Christian konnte es sich erlauben, seiner Frisur jeden verrückten Schliff zu geben, der ihm in den Sinn kam. Doch für ihn stand dies außer Frage. Es gab Regeln und an diese würde er sich halten. Und vielleicht – nur vielleicht – erlaubte es Christian hin und wieder diese Regeln zu biegen oder zu umgehen, nur weil Olaf selbst sie pflichtgetreu genug für sie beide befolgte.
    Später schwiegen sie den größten Teil der verbleibenden Zeit, als würfe die drohende Ankunft Hannibals und Helenas bereits ihre Schatten durch das Haus.
    Stumm saßen sie zusammen, sahen gelegentlich auf, sich an in seltsam gegenseitigem Verständnis. Sie benötigten keine Worte. Die Trauer, der Schmerz

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