Ueber den Horizont hinaus - Band 1
bekam.
Peinlich berührt wandte er sich jedesmal ab, entschuldigte sich, sobald es ihm möglich war und zog sich zurück in seine Arbeit, lenkte sich ab und manchmal, manchmal rief er Carola an, sprach mit ihr, rief sie sich ins Gedächtnis, die Art, wie sie sich anfühlte, wie sie sich an ihn schmiegte, weich und sanft, tröstlich und zu ihm gehörig. Wie es sein sollte, wie er sein sollte, wie sein Leben aussehen sollte.
*
Weihnachten kam näher und Olaf freute sich ebenso darauf, wie er das Wiedersehen fürchtete.
Die Briefe, die er von Christian erhalten hatte, blieben hauptsächlich nichtssagend. Teenager-Briefe, die von Schule und Schulproblemen erzählten, von Freizeitaktivitäten, jedoch jede Anspielung auf ihre Eltern missen ließen.
Olaf las sie aufmerksam und verwahrte sie dann sorgfältig dort, wo er alle Erinnerungsstücke an Christian sammelte, seine ersten Zeichnungen, seine ersten Worte und die Fotos, die er sich regelmäßig von ihm schicken ließ.
Doch all diese Dinge sagten nichts darüber aus, wie Christian sich fühlte, welche Entscheidungen er zu treffen hatte, wie sein Leben wirklich aussah.
Und wenn Olaf von sich selbst ausging, und davon, wie er selbst es gewohnt war, sich zu verhalten, so war dies kein gutes Zeichen. So konnte sich alles hinter den neutralen Schilderungen verbergen, alles an Schwierigkeiten eines Heranwachsenden, das vorstellbar blieb.
Es war kalt an dem Nachmittag, an dem er eintraf.
Eiskalt jedoch schneefrei. Keinem weißen Weihnachten sahen sie in diesem Jahr entgegen, eher einem grauen.
Eine Nacht nur sollte er bleiben, teilnehmen an dem Empfang, den seine Familie an diesem Weihnachtsabend gab.
Eine erste vorsichtige Vorstellung des Juniors in die konservative Geschäftswelt, deren erste Sporen er sich noch verdienen musste.
Und alles, woran Olaf dachte, war Christian, daran, Christian wiederzusehen.
Die Vorbereitungen waren bereits in vollem Gange. Emsiges Getrippel zahlloser Füße erfüllte das Haus. Möbel wurden ein letztes Mal poliert, Geschirr aufgetragen, Blumen arrangiert. Dienstbare Geister, gekleidet in Schwarz und Weiß werkelten emsig.
Natürlich hatte seine Ankunft niemand bemerkt. Natürlich war von seinen Eltern keine Spur zu sehen.
Olaf konnte sich nur vorstellen, dass sie irgendwo im Hintergrund ihre Fäden zogen, ihre Netze spannten, den Abend so planten, dass sie das ultimative Ergebnis daraus ziehen konnten.
Geparkt hatte er ein Stück außerhalb, wohl wissend, dass die Stellplätze für Gäste und Klienten reserviert waren.
Olaf packte seinen Aktenkoffer fester und schritt auf das Haus zu, nickte im Vorbeigehen den Menschen zu, die zu beschäftigt waren, um ihn zu bemerken.
Sein Blick wanderte über die Fensterreihen, doch weder die Bewegung eines Vorhanges, noch ein auftauchendes Gesicht zeugten von der Anwesenheit desjenigen, den er sich zu sehen wünschte.
Er trat ein, durchschritt die Vorhalle, ging die Treppe hinauf und steuerte direkt sein Zimmer an. Glücklicherweise befand sich dieses an einem abgelegenen Ort, am Ende des Ganges, so dass er keine Störung befürchten musste.
Mit einem Seufzer sah Olaf sich um, stellte fest, dass sich nichts, überhaupt nichts in diesem Raum verändert hatte. Das Zimmer blieb ein Gästezimmer, konserviert für die seltenen Aufenthalte, die er seinem Elternhaus zugestand und Olaf wusste nicht, ob er sich über diese Tatsache freuen oder inwendig gruseln sollte.
Alles in ihm zog ihn zu Christian, und Olaf musste sich zurückhalten, um nicht aus dem ihm zugedachten Raum zu fliehen und Hals über Kopf das Zimmer des Bruders aufzusuchen.
Er wollte, konnte diesen nicht so überfallen, ihm nicht zeigen, dass er Zuflucht suchte, Zuflucht bei ihm, und dass ihm alles Andere zu viel wurde.
Olaf ließ sich mit einem Stöhnen auf sein Bett sinken, rieb sich erschöpft die Stirn. Er war müder, als er angenommen hatte. Die Anstrengungen der letzten Wochen und Monate forderten ihren Tribut, und aus einem Grund, den er selbst nicht kannte, konnte er sich nicht vorstellen, diesen Abend unter der Linse wichtiger Geschäftspartner zu verbringen, die in der Lage sein sollten, die Weichen für seine Zukunft zu stellen.
Olaf schloss die Augen, gab sich für einen Augenblick der Illusion hin, dass ihn wohlige Dunkelheit umfinge, dass er sich in eine Pause zurückziehen dürfte, die ihm Ruhe spenden würde, und vielleicht sogar den Frieden, den er so sehnlich vermisste.
Doch natürlich existierte keine Ruhe
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