Ueber den Horizont hinaus - Band 1
umfing sie. Die Gegend war ruhig. Mit Ausnahme des Theaters spielte sich in diesen Straßen keinerlei Nachtleben ab. Besucher, denen die Vorstellung nicht ausgereicht hatte, zögerten nicht, ihre Wagen zu besteigen und ein gastfreundlicheres Viertel zum Zwecke der weiteren Zerstreuung aufzusuchen.
Dennoch oder gerade deswegen begann Liam sich zunehmend besser zu fühlen, je weiter sie vorwärts kamen. Die frische Luft belebte ihn, und selbst sein gelegentliches Stolpern, das mit beiden Füßen in einer Pfütze und durchnässten Socken endete, beeinträchtigte sein Hochgefühl nicht. Vielleicht lag es auch daran, dass Nathan ihm trotz seines Handicaps ermöglichte, sich sicher und selbstständig auf den Beinen zu halten. Der leise Zweifel, der ihm eingeflüstert hatte, dass es dumm sei, auf den Arztbesuch zu verzichten, verschwand mit der Sicherheit, die ihm Nathans Gesellschaft verlieh.
Er zögerte nicht, Nathan den kurzen Weg zu seinem Apartment zu beschreiben, ließ es zu, dass der Blonde ihn stützte, während er seinen Hausschlüssel heraus kramte. Wie selbstverständlich und mit zunehmender Sicherheit half Nathan Liam die Treppen hinauf, nachdem er einen kurzen Blick auf das „Außer Betrieb“-Schild, das schief an der verschlossenen Fahrstuhltür hing, geworfen hatte.
Erst vor der Wohnungstür zögerte Nathan einen Moment, doch Liam legte seine linke Hand auf Nathans Schulter, stützte sich auf ihn, während er aufschloss und dirigierte Nathan ohne Umschweife ins Innere des kleinen Apartments.
Es machte wirklich nicht viel her, hatte nichts von dem Glanz und der Pracht, die das Publikum aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Darsteller einer Sagengestalt in Verbindung brachte. Auch Nathan musste zugeben, dass er etwas enttäuscht war. Was er erwartet hatte, konnte er nicht sagen, doch mit Sicherheit war es nicht diese beinahe armselig ausgestattete, Unordnung atmende Wohnung.
Benutztes Geschirr stand auf dem Couchtisch. Gebrauchte Kleidung hing wahllos über Couch und Stühlen. Die Vorhänge waren geschlossen, verhinderten tagsüber die Sicht auf graue Mauern und einen tristen Hinterhof. Auf den Regalen und den wenigen Bilderrahmen lag Staub, ebenso wie auf dem winzigen Fernseher und dem tragbaren CD Player.
Nathan brach seine Inspektion ab, als er den Blick Liams auf sich fühlte, der inmitten des Raumes stehen geblieben war, nachdem sie den winzigen Korridor gemeinsam durchquert hatten.
Liams Gesicht zeigte einen Ausdruck peinlicher Berührung, als sei ihm jetzt erst bewusst geworden, in welch wenig vorzeigbare Umgebung er Nathan ungeplant gebeten habe, und als suche er nun verzweifelt einen Ausweg aus diesem Dilemma. Nathan warf ihm ein Lächeln zu, das Liams Unwohlsein zerstreuen sollte, doch der Ausdruck verfehlte seine Wirkung. Nathan schluckte trocken.
„Ähm… ich sollte dann wohl gehen.“ Er wischte sich nervös ein unsichtbares Staubkorn von seiner Jeans, bevor er wieder aufsah. Liam zeigte keine Reaktion. Erst einen Moment später löste der Dunkelhaarige seinen Blick vom Boden. Ein befreites Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als habe er gerade eine Entscheidung getroffen. „Nein“, antwortete er. „Nein, das brauchst du nicht.“
Nathan leckte sich nervös über die Lippen, unsicher, was er denken sollte.
„Bist du dir sicher?“, fragte er schließlich zögernd.
„Natürlich bin ich das“, antwortete Liam prompt. „Es sei denn natürlich…“ Er stockte. „Es sei denn, du möchtest gehen, dann steht dir das natürlich frei. Das weißt du.“
Nathan räusperte sich, blinzelte.
„Ich bleibe gerne“, sagte er dann. „Nur um dir behilflich zu sein“, beeilte er sich rasch zu versichern.
„Du… soll ich dir etwas holen, etwas herrichten…?“
Er lächelte unsicher, verlegen, spürte das Blut erneut in seinen Kopf schießen.
Liam grinste anstelle einer Antwort, humpelte auf Nathan zu und legte ihm leicht seine Hand auf die Schulter. Nathan schauderte, als Liam sich langsam zu ihm vorbeugte bis seine Lippen beinahe Nathans Ohrläppchen berührten.
„Das ist nicht notwendig“, flüsterte der Größere und richtete sich wieder auf. In seinen dunklen Augen funkelte es belustigt.
„Nein?“, hauchte Nathan als Antwort. Seine Ohren glühten und seine Kehle erschien ihm mehr als ausgetrocknet. Wie dumm von ihm, sich hier zu benehmen wie ein Teenager, sich zu fühlen wie ein Teenager. In seinem Alter sollte er es besser wissen. Als habe Liam Nathans Gedanken
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