Ueber den Horizont hinaus - Band 1
gelesen, zog er sich von ihm zurück und betrachtete ihn prüfend. Seine Lippen umspielte wieder ein Lächeln, als er eine Handbewegung in Richtung Couch vollführte.
„Ich habe mich vielleicht geirrt“, murmelte Liam, ohne Nathan aus den Augen zu lassen. „Möchtest du uns etwas zu trinken holen? Im oberen Küchenschrank sind Gläser.“
Nathan räusperte sich erneut. „Klar.“ Er fühlte Liams Augen in seinem Nacken, als er sich der Küchennische näherte, sich auf die Zehenspitzen erhob und streckte, um den Schrank zu öffnen und zwei Gläser zu entnehmen.
Was er nicht ahnte, war, dass Liam ihn nun, da er ihm den Rücken zuwandte, zum ersten Mal offen und genau betrachtete. Und dass dem Dunkelhaarigen gefiel, was er sah.
Als Nathan sich streckte, hob sich der Stoff seines kurz geschnittenen Sweatshirts und zeigte ein Stück weißer Haut. Unwillkürlich leckte Liam sich die Lippen. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken in Richtungen, die er nicht erwartet hatte. Zumindest nicht an diesem Abend, in einer solchen Situation, und mit diesem Mann.
Nathan war ihm nie zuvor aufgefallen, wenigstens nicht wissentlich. Nicht absichtlich. Vielleicht hatte er einen Blick mehr riskiert, als er es im Vergleich mit den übrigen Kollegen gewohnt war. Vielleicht war ihm das helle Haar aufgefallen, das im Licht der Scheinwerfer wie Gold glänzte. Vielleicht hatte er Nathans Blick aufgefangen, das strahlende Blau bemerkt, das kristallklar aufleuchtete, sobald die Sonne im richtigen Winkel hineinschien.
Liam fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Natürlich hatte er Nathan bemerkt. Nicht bewusst, nicht allzu bewusst. Und doch erinnerte er sich nun deutlich an die erste Probe, an das erste Mal, als er seine Worte, seine Lieder an den Neuen gerichtet hatte. Einfach, weil es immer irgendjemand sein musste, auf den er sich konzentrierte, der ihm einen Fixpunkt bot, während er seinen Auftritt absolvierte. Zumeist bemerkte derjenige es auch nicht, war zu sehr versunken in seine eigene Darstellung, die persönlichen hundert Probleme, die sich unerwartet auftaten, während der heimlich von Liam Erwählte selbst versuchte, so gut wie möglich, so elegant wie möglich, so beeindruckend wie möglich zu sein.
Doch auch, wenn er es vor sich selbst nicht zugegeben hatte, so erkannte Liam nun, dass Nathan von Anfang an anders gewesen war, und dass er selbst es gewusst hatte. Mehr noch, Nathan hatte seine Aufmerksamkeit ungeachtet der eigenen Aufgaben fast ausschließlich auf Liam gerichtet.
Mit einem Mal erinnerte Liam sich nur allzu deutlich an die vielen, kleinen Momente, in denen ihre Augen sich begegnet waren. Daran, wie Nathan unbeweglich an der Seite der Bühne gestanden hatte, stets an demselben Ort, mit einer Hand im Vorhang, als müsste er sich festhalten. Und immer blieb sein Blick auf Liam gerichtet, hielt ihn, führte ihn durch die Vorstellung.
Natürlich war Nathan ihm aufgefallen. Er sah gut aus, war nicht besonders groß, aber schlank und drahtig. Wenn man genauer hinsah, bemerkte man, dass er nicht ganz so jung war, wie er von weitem erschien. Um seine Augen herum hatten sich bereits zahlreiche Falten in die Haut gegraben. Ein strenger Zug um den Mund, zarte Linien auf der Stirn, gerade so tief, dass die Theaterschminke sie nicht mehr vollständig verdecken konnte. Die Haut des Gesichts war leicht gebräunt, ganz im Gegensatz zu seinem Rücken, zumindest zu der kleinen Stelle, die Liam ausgemacht hatte. Diese war bleich wie die Innenseite von Nathans Armen, ein interessanter Kontrast zu Liams eigener, dunklerer Haut.
Liam zwang sich wegzusehen, auch wenn Nathan die Gläser bereits geangelt hatte und sich nun bückte, um eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu nehmen. Nur aus den Augenwinkeln begutachtete Liam wie sich die Jeans während Nathans Bewegungen an den Körper schmiegte. Wie sie Rundungen zeigte, die bisher verborgen geblieben waren, aber an die sich Liam durchaus erinnerte, dachte er an den Moment zurück, in dem er bemerkt hatte, wie Nathan sich seiner weiten Samtjacke entledigte, nur um in den obligatorischen Strumpfhosen hilflos am Rande der Bühne zu stehen, während ihm einer der Requisiteure eine schimmernde Rüstung brachte. In diesem Augenblick, während Nathan nichts hatte tun können, während er verlegen auf den Bretterboden geblickt hatte, in diesem einen Moment hatte er Liams Herz berührt. Und genau jetzt erinnerte Liam sich wieder an exakt diesen Augenblick, der es bislang vermieden
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