Ueber den Horizont hinaus - Band 1
den Schultern, „aber nicht daran gedacht, dass du vielleicht keinen Alkohol trinkst.“ Liam zog seine Augenbrauen in die Höhe und brach dann in befreites Lachen aus. „Ich trinke wirklich nicht“, sagte er und nickte in Richtung eines schmalen Schränkchens, das an der Seite, neben der Küchennische befestigt war. „Bedien dich ruhig“, sagte er warm. „Für deine Hilfe hast du mehr als das verdient. Es geht mir auch schon besser. Ich bin sicher, dass ich morgen wieder problemlos laufen kann.“
Nathan lachte auch und folgte der Geste des Dunkelhaarigen. „Zum Glück ist keine Vorstellung“, sagte er mehr zu sich selbst und wählte mit sicherem Blick eine viereckige Flasche Whiskey aus, die noch zu drei Vierteln gefüllt war. Erfreut betrachtete er das Etikett, schloss die Schranktür und begab sich zu Liam, an dessen Seite er sich niederließ. Mit einem fragenden Seitenblick und nachdem er das bestätigende Nicken erhalten hatte, schraubte Nathan die Flasche auf, und machte Anstalten, dem anderen einzuschenken. Liam schüttelte dankend den Kopf und bedeckte sein Glas zusätzlich mit der Hand.
Achselzuckend gönnte Nathan sich einen gehörigen Schluck, der sich mit dem Wasser in seinem Glas mischte und ihm einen warmen Farbton verlieh. Das herbe Aroma des Getränks stieg auf und ließ Nathan genießerisch die Luft einatmen. Er verschloss die Flasche, hob sein Glas grüßend in Richtung Liams und trank durstig.
Liam beobachtete, wie sich die Augen des anderen schlossen, seine Kehle arbeitete, als das scharfe Getränk sie benetzte. Es sah aus, als sei Nathan gewohnt, zu trinken. Als habe er darauf gewartet. Als habe sein Körper darauf gewartet.
Liam presste die Lippen zusammen. Er kannte die Anzeichen. Nathan war nicht der Erste und mit Sicherheit nicht der Letzte, der versuchte, seine Dämonen mit Alkohol auszutreiben. Wider besseres Wissen. Wider der Überzeugung, dass jede Droge deren Macht nur verstärkte. Trotzdem blieb die zeitweise Betäubung der Sinne nach wie vor der einfachste und ein naheliegender Weg. Ein Weg, den Nathan vielleicht nur ein kleines Stück ging, vielleicht nur ein paar Meter. Woher sollte Liam das wissen? Er kannte den anderen nicht, hatte nur allzu wenige Worte mit ihm gewechselt.
Von Nathans Lebensweise wusste er nichts. Zudem durfte er, und er vor allen anderen, sich kaum das Recht herausnehmen, ein Urteil zu fällen.
Der Glanz, der in Nathans Augen entstanden war, zauberte trotz all seiner Vorbehalte, ein Lächeln auf Liams Lippen. Seufzend lehnte er sich zurück, genoss es, in dem Bewusstsein zu relaxen, dass auch Nathan zur Entspannung gefunden hatte. Alles andere spielte keine Rolle, nicht in diesem Augenblick.
Auch Nathan begann, sich besser zu fühlen. Die automatische Unsicherheit, die mit dem Betreten einer fremden Wohnung einherging, verschwand allmählich. Sie wurde ersetzt von dem bekannten, warmen Gefühl im Magen, das ihm bedeutete, er sei angekommen. Mit dieser gewonnenen Ruhe durfte Nathan sich Neuem zu wenden. Durfte anfangen, zu suchen und zu finden. Doch zuallererst sollte er den Grund entdecken, der ihn genau in dieser Nacht in genau diese Wohnung geführt hatte. Zuallererst eine Ahnung davon erhalten, wohin all dies ihn führen sollte.
Neben ihm entspannte Liam sich zusehends. Nathan bemerkte es an dem leisen Seufzer, dem Eindruck, dass der schlanke Körper tiefer in die Polster sank, als passte er sich den Formen dort an. Nathan wunderte sich keineswegs, dass Liams Geschmeidigkeit nicht nur auf der Bühne ein Zeichen seiner Persönlichkeit war. Dessen Bewegungen erschienen ihm stets fließend, mühelos, natürlich, als könnte er sich in jede Situation, in jede Umgebung einfügen auf eine Weise, die ihn mit allem verschmelzen ließ, was sich in seiner Nähe befand.
Nathan wusste nicht, wie viel Kraft und Jahre harter Arbeit es Liam gekostet hatte, diesen Eindruck zu erwecken. Er konnte nur raten. Nur vergleichen mit den zahllosen Lehrstunden, die er selbst mit dem Erlernen eines Handwerkes verbracht hatte, das nur allzu oft nur allzu gering geschätzt wurde.
Vielleicht erschien Liam ihm auch deshalb als die Perfektion in Menschengestalt. Wie er neben ihm saß, wie sein muskulöses Bein ausgestreckt vor ihnen auf einem Kissen ruhte. Wie sein dunkles Haar voll auf die Schultern viel. Wie er trotz seiner Erschöpfung die aufrechte Haltung eines Tänzers zeigte, all das bezauberte Nathan mehr, als jeder Auftritt es bis jetzt getan hatte.
„Du… du
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