Über den Wassern
Horizont wie ein leuchtendes vierarmiges Gerüst, das da droben errichtet war, um zu verhindern, daß die Welt ungehemmt durch den Himmel stolperte.
Lawler war von einer Art kristallener Klarheit erfüllt. Fast konnte er sein Gehirn ticken hören.
Er erkannte, daß es ihm nichts ausmachen würde, von Sorve fortzugehen. Das erstaunte ihn. Du bist betrunken, sagte er sich.
Vielleicht war er das. Doch irgendwo, irgendwann im Verlauf der Nacht war der Schock über die verhängte Ausweisung von ihm gewichen. Ob völlig verschwunden oder nur zeitweilig verdrängt, das wußte er nicht. Aber jetzt vermochte er immerhin die Vorstellung plötzlich ins Auge zu fassen, ohne davor zurückzuscheuen. Er würde mit dem Weggang fertigwerden. Nein, da war sogar noch etwas anderes: Die Aussicht auf diesen Abschied hatte etwas - Belebendes, Fröhliches an sich. Wie war das möglich?
Doch, ja, es war irgendwie erregend. Bisher war sein Leben nach einem festen Muster verlaufen, war wie erstarrt gewesen: Lawler, der Arzt auf Sorve, ein Mann aus Erster Familie, ein Lawler-von-den-Lawlers, der mit jedem Tag um einen Tag alterte, seine täglichen Pflichten erfüllte und die Kranken heilte, so gut es eben ging; der am Gestade entlangwanderte, ein bißchen in der Lagune schwamm, mal ein wenig angelte; die erforderliche Zeit aufwandte, um seinem Schüler das Arzthandwerk beizubringen; der aß und trank, alte Freunde besuchte, dieselben alten ‚guten’ Freunde wie in seiner Kindheit; Lawler, der sich dann schlafenlegt, um wieder aufzuwachen und das Ganze von neuem zu beginnen, winters und sommers und winters, in Regentagen und in Dürrezeiten... Doch jetzt sollte sich dieses Webmuster des Alltags ändern. Er würde an einen fremden Ort ziehen, um dort zu leben. Er konnte vielleicht ein ganz ganz anderer sein. Der Gedanke faszinierte ihn. Betroffen stellte er fest, daß er beinahe ein wenig dankbar war. Aber er lebte hier schon dermaßen lange. Er war so lange nur er selbst gewesen.
Also, du bist sturzbesoffen, sagte er noch einmal zu sich. Und lachte. Stinkesturzbesoffen!
Dann kam er auf die Idee, er könnte durch die schlafende Siedlung schlendern, einen sentimentalen Rundgang machen, um Abschied zu nehmen, sich alles so zu betrachten, als wäre dies bereits seine letzte Nacht auf Hydros; er könnte dabei alles noch einmal in der Erinnerung durchleben, was ihm widerfahren war, an dem Platz und an jener Stelle, jede kleine Begebenheit seines Lebens. Wo er mit dem Vater gestanden und aufs Meer hinausgeschaut hatte; wo er den phantastischen Geschichten des alten Jolly gelauscht hatte; wo er seinen ersten Fisch gefangen und zum erstenmal ein Mädchen in den Armen gehalten hatte. Schauplätze seiner Freundschaften und seiner Liebesgeschichten (soweit davon die Rede sein konnte). Den Teil der Bucht, wo er damals Nicko Thalheim beinahe harpuniert hätte. Und die Stelle hinter dem Ossarium, wo er damals den graubärtigen Marinus Cadrell beim Bumsen mit Mariam, Damis Sawtelles Schwester, beobachtet hatte, die jetzt als Nonne im Kloster lebte. Und dabei fiel ihm wieder ein, daß er selber ein paar Jahre später es mit Mariam getrieben hatte, drunten im Gillie-Bezirk, weil sie beide die Gefahr liebten. Alles kam ihm wieder ins Gedächtnis zurück. Die verschwommene dunkle Gestalt seiner Mutter. Seine Brüder, der eine, der viel zu früh gestorben war, und der andere, der zur See gegangen und für immer aus Lawlers Leben davongetrieben war. Und sein Vater, erschreckend in seiner Unermüdlichkeit und Unnahbarkeit, ein von allen verehrter Mann, der ihn unablässig antrieb, medizinische Techniken zu erlernen, wo er doch viel lieber drunten in der Bucht herumgeplanscht hätte... in seinen Knabenjahren, die so gar nicht unbeschwerte Kindheit gewesen waren; so viele unzählbare Stunden ihm aufgezwungenen Studiums, so viel Verzicht auf Spiel und Spaß... Eines Tages wirst du hier der Doktor sein, hatte der Vater ihm immer wieder eingehämmert. Du wirst Arzt sein. Und seine Frau, Mireyl, als sie die Fähre nach Morvendir bestieg. Die Zeit tickte rückwärts. Klick, und es war der Tag seiner Fahrt zur Insel Thibeire. Klick, und er und Nestor Yanez wie besoffen vor Angst und Gelächter vor dem wütenden Gillie-Weibchen, das sie mit Ginzo-Eiern beworfen hatten. Und klick, da war diese Abordnung mit den langen Gesichtern, die ihm eröffnete, daß sein Vater tot sei und er von nun an der Inseldoktor. Klick, und er fand heraus, was es hieß, ein Kind in die Welt
Weitere Kostenlose Bücher