Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer,
in dem Roman, den ich schreibe, hält jemand, der oft Enkel, sonst Sohn, Vater, Mann, Liebhaber oder Freund, hin und wieder Romanschreiber, regelmäßig Berichterstatter, dann wieder Orientalist, ein Jahr lang die Nummer zehn und an einigen Stellen Navid Kermani genannt wird, am Dienstag, dem 11. Mai 2010, eine Poetikvorlesung in Frankfurt. Allerdings wird die Vorlesung in dem Roman, den ich schreibe, wahrscheinlich nicht den Über den Zufall heißen, wie es draußen auf den Plakaten steht: Als ich zur Vorbereitung den Roman durchging, soweit ich ihn geschrieben habe, fiel mir selbst auf, daß der Begriff des Zufalls nur unzureichend die Poetik bezeichnet, von der ich in der nächsten Stunde und an den kommenden vier Dienstagen zu Ihnen sprechen werde. Zudem stellte ich fest, daß ausgerechnet derjenige, der in diesem Augenblick für mein Herzklopfen verantwortlich ist, dem Zufall mißtraute. Der Brief, der mich einlud, die Frankfurter Poetikvorlesung zu halten, schüchterte mich nämlich mit dem Hinweis ein, daß ich am Pult, dem authentischen Pult von Theodor W. Adorno stehen würde. Sie werden verstehen, daß ich, als ich eben den Hörsaal betrat, zuerst zum Pult schaute: Ist dies hier, worauf mein Manuskript liegt, wirklich das Pult Adornos? Ich hätte einiges zu Adornos verstreuten Bemerkungen über den Zufall zu sagen und werde es in dem Roman, den ich schreibe, oder an anderer Stelle vielleicht tun, allein, für eine Entgegnung ausgerechnet an diesem Pult, auf dem womöglich seine Manuskripte oder auch nur seine Zettel mit Stichwörtern lagen, ist mein Respekt zu groß. Ihnen mag meine Hemmung kokett oder nicht im Sinne von Adornos kritischem Geist erscheinen, aber wenn Sie den Roman kennten, den ich schreibe – und ich kann seit einiger Zeit auf einen Vertrag und einen wenngleich unrealistischen Erscheinungstermin verweisen –, würden Sie sehen, daß darin jeder Tote einen Ort hat, an dem nur Gutes über ihn gesagt wird, wie erst ein Idol, das Adorno für mich geblieben ist. Ich habe es nur innerweltlich Respekt genannt, um niemanden zu verstören, aber tatsächlich meinte ich Ehrfurcht. Möge seine Seele froh sein.
Daß ich in der Vorlesung auf Jean Paul und Hölderlin eingehen müßte, wenn ich über den Roman sprechen wollte, den ich schreibe, genau gesagt über die Poetik des Romans, den ich schreibe, stand fest, noch bevor ich mich für den Haupttitel entschied, mit dem ich nun hadere. Der Roman selbst, den ich schreibe, bildet seine Poetik im Laufe der Lektüre von Jean Paul und Hölderlin aus. Eigentlich müßte ich zuerst über Hölderlin sprechen und dann erst über Jean Paul, weil der Enkel, Sohn, Vater, Mann, Liebhaber, Freund, Romanschreiber, Berichterstatter, Orientalist, die Nummer zehn oder Navid Kermani zunächst Hölderlin liest und erst sehr viel später Jean Paul. Indes habe ich in meinem Brief an die Universität Frankfurt, ohne es zu bedenken, im Untertitel der Vorlesung zuerst Jean Paul genannt, weil sich dadurch im Satz klanglich ein Ausströmen von den beiden einsilbigen Namen Jean und Paul über das dreisilbige Hölderlin zur längsten Einheit ergab, der Roman, den ich schreibe . Niemand würde mich hindern, wenigen es auch nur auffallen, wenn ich trotz der Reihenfolge im Untertitel dennoch mit Hölderlin begänne. Was mich daran hindert, die Reihenfolge umzukehren, ist eben die Poetik, von der ich in der nächsten Stunde und an den vier kommenden Dienstag, so Gott will, zu Ihnen sprechen werde. Wenn Sie den Roman kennten, den ich schreibe, würden Sie sehen, daß ich darin stets bemüht bin, dem zu folgen, was sich von selbst ergibt, »schlafen, wenn man müde ist, essen, wenn man hungert«, wie der Meister Baso Matsu im achten Jahrhundert die Lehre des Zen-Buddhismus zusammenfaßte.
Während ich den letzten Satz schreibe – also nicht jetzt, am 11. Mai 2010 hier in Frankfurt, sondern am 28. April um genau 10:23 Uhr zweihundert Kilometer entfernt in meinem Büro, das manchmal eine Wohnung ist –, denke ich, daß Der Roman, den ich schreibe vielleicht selbst der bestmögliche Titel für den Roman sei, den ich schreibe, so wie das Essen, das ich esse, das Getränk, das ich trinke, oder die Frau, die ich liebe. Nein, letztere hätte Baso Matsu wohl kaum als Beispiel angeführt für seine Lehre, doch bin ich kein Zen-Meister und ist Poetik keine Theologie. Ich wollte keinen Roman schreiben ohne Frau, die geliebt wird, und
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