Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
in wesentlichen Zügen zu dem Roman gehört, den ich schreibe. Sollten Sie meine Vorlesungen also einmal nachlesen wollen, müßten Sie warten, bis der Roman erscheint, den ich schreibe, und sich dann durch tausend oder noch viel mehr Seiten mühen, auf denen sich seine Poetik hier und dort verteilt«. Der Erzähler im Roman ›Dein Name‹ verlautbart Ähnliches, aber solche Bekundungen sind gesegnet mit dem Segen der Widerruflichkeit. Denn kein Roman, und der Kermanis schon gar nicht, macht seine Poetologie überflüssig.
Das signalisieren die drei Stichworte im Titel der Vorlesung: Zufall, Jean Paul, Hölderlin . Daß das, was zufällt, irgendwo abgefallen ist, mag man eine triviale Einsicht heißen. Der Roman, jeder Roman, lebt davon. Unsere Frankfurter Poetikvorlesung hat damit auch zu tun. Im Roman ist von ihr die Rede, als ein Telefongespräch erzählt wird, das der »Poetologe« ein Jahr vorher mit dem ihn zur Vorlesung einladenden »Germanisten« geführt hat (also mit Ulrich Wyss): die Einladung habe nichts mit dem damals, im Frühjahr 2009, akuten Skandal, daß Kermani ein hessischer Staatskulturpreis nach dem Einspruch von Kirchenfürsten aberkannt werden sollte, zu tun, sagte ich (sagt der Roman), das sei »nur ein Zufall«, und daraus sei (sagt der Roman) der Einfall des künftigen Poetologen entstanden, die Vorlesung müsse vom Zufall handeln. Was aber ist der Zufall? Die semantisierte Variante von Abfall? Einige Stellen in der Vorlesung und im Roman verweisen zart auf Rainald Goetz, auf dessen zuerst als »Blog« im Internet und dann als Buch bei Suhrkamp publizierten »Abfall für alle«. War das etwa purer Lebensstoff gewesen, ungefiltert und ungeordnet, eben das, was eben so an- und zu- und abfällt? Natürlich nicht. Lebensstoff macht noch lange keinen Roman, und nicht einmal ein Blogger-Tagebuch, was Navid Kermani genausogut weiß wie Rainald Goetz (der Frankfurter Poetikdozent von 1998). Der Roman ›Dein Name‹ jedenfalls navigiert, unerschrocken undunermüdlich, über das gran mar dell’essere , das große Meer des Seins, wie Dante sagen würde – ein Dichter, der auch dem Islam- und Religionswissenschaftler Navid Kermani nicht fremd ist.
Dafür, daß kein Roman und auch kein Tagebuch seinen Lebensstoff einfach protokolliert, stehen in Kermanis Projekt die Dichter Jean Paul und Friedrich Hölderlin. Sie bilden eine poetische Referenz, die dem Raisonnieren des Poetologen die unvergleichliche sprachliche und gedankliche Prägnanz schenkt. Romane, und seien sie noch sehr mit Wirklichkeit gesättigt, werden nicht aus Lebenswelt gemacht, sondern vor allem aus Literatur. Jean Pauls und Hölderlins Lebenssphären haben sich kaum berührt, obwohl es gemeinsame Freunde und Bezugspersonen gab; beide stehen sowohl im Weimarer Klassizismus als auch in der spekulativen frühen Romantik abseits, gehörten dazu und auch wieder nicht. Beide sind erst im frühen XX. Jahrhundert, nicht zuletzt dank dem Kreis um Stefan George, als dichterische Potenzen allerersten Ranges erkannt worden. Kermani entwickelt seine Poetik aus der Lektüre dieser Autoren, auch in einem ganz handfesten Verstand: wie kam er zu den Büchern, und sei es, daß ihm der eine oder andere Jean Paul-Band zur Stützung seiner Schreibtischplattediente? Zur zweiten Vorlesung erschien der Verleger KD Wolff im Hörsaal und baute die einst berüchtigte, jetzt zurecht berühmte »Frankfurter Ausgabe« seines Hauses vor dem Rednerpult auf. In jeder der fünf Vorlesungen bewährte sich der Poetologe als ein Leser, dessen Intelligenz, Assoziationsstärke und Formulierungskunst ihresgleichen sucht. Aus Zitaten, auch aus sehr berühmten, immer wieder die Funken des jähen Erkennens schlagen: das kann nicht jeder. Die Zitate wurden von den Schauspielern Martin Rentzsch und Isaak Dentler vorgelesen und nicht, wie es der Brauch der Schul’ gewesen wäre, von dem Dozenten selber. Auch das ein ingeniöser Kunstgriff (der, obleich nicht kostspielig, sich nur dank einiger zusätzlicher Sponsoren bewerkstelligen ließ).
Isaak Dentler sprach dann auch, am Schluß der vierten Vorlesung, Navid Kermanis Text zum Andenken an den Frankfurter Soziologen Karl Otto Hondrich (1937–2007). Dieses Stück Prosa – es findet sich jetzt auch im Roman – gehörte, wenn es so etwas denn gäbe, in jede Anthologie deutscher Gedenkreden. Es ist schlicht ein Meisterstück an Menschenfreundlichkeit und Takt.
Zitierte Ausgaben
W = Jean Paul, Werke
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