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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Buch, das in dem Roman, den ich schreibe, unter der Schreibtischplatte lag. Was immer in der Wirklichkeit geschieht, ob ich in diesem Augenblick eine überzeugende Poetikvorlesung halte, ob Sie mir gebannt zuhören oder auffällig laut tuscheln, wird spätestens nach einem Tag, einem Jahr, einer Generation oder meinetwegen zweihundert Jahren, um einen so bedeutenden Menschen wie Jean Paul zu nehmen, vollkommen gleichgültig sein. Hingegen in den Romanen, die Jean Paul schrieb, kann selbst die geringfügigste Entwicklung eine Bedeutung, ja eine Notwendigkeit für seine Leser haben und sogar nach zweihundert Jahren und in zweihundert Jahren noch zu den höchsten Verwicklungen führen. Wie gesagt, nur das Ideale ist wirklich.
    Die Welt, in die der Romanschreiber eintrat, als er den ersten Band der Dünndruckausgabe von Jean Paul aufschlug, neben sich auf dem Teppich die Schreibtischplatte des alten Schreiners, ist so groß wie die Welt außerhalb des Büros, das immer noch eine Wohnung werden konnte. Wo ich in anderen Romanen auf eine Leinwand starre, die meinen Blick beengt, stehe ich bei Jean Paul auf einer weiten Ebene, auf der ringsum alles Mögliche verstreut liegt, das Höchste und das Niederste, Philosophie und Neunmalkluges, Poetik und Alltagsbeobachtungen, ohne daß die Seiten einer inneren Notwendigkeit zu folgen scheinen, die begreifbarer wäre als die Logik eines jeden Lebens selbst. Die Gesetzmäßigkeiten, Notwendigkeiten und Korrespondenzen, die sich dann doch entschlüsseln, sind so tröstend, wenngleich unzuverlässig wie in dem Bild, das ein religiöser Mensch von der Welt hat. Jean Pauls Romane bersten aus einem Übermaß an Einfällen und Vorfällen, ein Strang legt sich in den anderen, die Verwicklungen jagen sich gegenseitig. Selbst dem Kindler , in den ich beim Lesen immer wieder schaue, merkt man die Mühe an, die Übersicht zu behalten. Zugleich verstärken die Schneisen, die die Zusammenfassung in das Handlungsgestrüpp schlägt, den Verdacht, daß Jean Paul gerade der Ehrgeiz getrieben haben könnte, Übersicht unmöglich zu machen. Die Abschweifungen zum Beispiel, die er Digressionen nennt, sind so zahlreich, daß sie allein jeden Anflug von Spannung vertrieben, den es ohnehin nicht gibt. Einmal beendet Jean Paul ein Abschweifung mit einer Abschweifung, ein andermal schimpft er, daß nichts einer Geschichte mehr schade als die Geschichte, da man sich dadurch den Platz für die Abschweifungen raube, und laut auflachen mußte ich, als Jean Paul während einer Abschweifung jammert, daß es ihm an Mut fehle, gelegentlich abzuschweifen, da der Leser eine Handlung erwarte. Schon vor dem ersten Zettelkasten, wie die Kapitel manchmal heißen, verlaufe ich mich in seinen Einfällen, Vorrede nach Vorrede und im Quintus Fixlein sogar zusätzlich noch die Geschichte der Vorrede, in der Jean Paul einem erfundenen Rezensenten begegnet, dem er vorspielt, Quintus Fixlein zu sein, den der Roman wiederum als den Gevatter Jean Pauls vorstellt, für die Disposition weitere Gleichnisse, die obligatorischen Appendixe und am Ende des vierten Bandes der Dünndrückausgabe noch ein Roman, der nur aus einem Appendix besteht sowie dem Appendix jenes Appendix. Einmal schreibt Jean Paul eine Vorrede, nur um eine Vorrede geschrieben zu haben, im Sinne des Zen-Meisters Baso Matsu könnte man sagen: eine Vorrede, die eine Vorrede ist:
     
    Ich schreibe sie bloß, damit man nicht das erste Kapitel für eine nimmt und nicht dieses überhüpft, sondern diese Vorrede. 4
     
    Jean Pauls Romane sind der permanente Verfremdungseffekt. Wie im epischen Theater, gleichwohl ohne Didaktik kommentiert der Romanschreiber das eigene Romanschreiben und stellt es somit in seiner Romanhaftigkeit heraus. Fortlaufend weist Jean Paul auf besonders schwierige Passagen hin, die er dann innerhalb der Handlung um einen Tag verschiebt, um als Romanschreiber selbst ausgeruhter zu sein, rechtfertigt sich für seine Exkurse, redet seine Figuren an, entschuldigt sich bei den Rezensenten für Stellen, die ihm mißraten seien, lobt sich für ausgefallene Metaphern, erklärt, was in Romanen jetzt gewöhnlich geschehen würde und warum er abweicht, oder annonciert das Stadium, in dem sich die Handlung befindet. Er bietet anderen Romanschreibern seine Charaktere sogar zum Verkauf an. Kürzestkapitel erklärt er mit Schreibblockaden wegen physischer Unpäßlichkeit:
     
    Erst jetzt ists toll: die Krankheit hat mir zugleich die juristische und die

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