Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
Vom Netzwerk:
einzusehen war aber nicht immer einfach. Er hatte gelernt, dass man die väterliche Autorität nicht anzuzweifeln hatte. Wo keine Autorität herrschte, gab es unvermeidlich fitna , Unruhe und Chaos. Der Wille seines seligen Vaters war das Gesetz, das immer gerecht war.
    Gerechtigkeit war bei der Erziehung das Schlüsselwort gewesen, das er an seine Kinder weitergegeben hatte. Es gab jedoch kaum etwas Schwierigeres, als Kinder in einer Umgebung zu erziehen, die selbst ungerecht war und zudem andauernd seine Autorität unterminierte. Ihm war es wichtig, dass seine Kinder stolz waren, weil sie nach ihrem Glauben handelten. Ihm war auch wichtig, dass sie die Älteren respektierten, die Wahrheit sagten, hilfsbereit waren und sich mit sinnvollen Dingen beschäftigten. Doch außerhalb des Schutzes der heimischen vier Wände bekamen seine Mädchen zu hören, dass sie sich wegen des ekligen Henna auf ihren Händen während des Idd-Festes schämen sollten. Seine Kinder konnten keinerlei Anspruch auf die Wahrheit erheben, denn für die anderen basierte ihre Kultur auf der Lüge und ihr Glaube auf der Gewalt. Für die Außenwelt gab es als Maßstab zunächst nur ihre Herkunft und ihren Namen.
    Er fürchtete nichts stärker als den Tod. Er gab sich alle Mühe, Gott so zu verehren, wie Er es den Mensch aufgetragen hatte. Wenn er von dieser Welt schied, wollte er, dass seine Kinder hier ihren Platz gefunden hatten. Aus Söhnen Männern machen, darin bestand die Aufgabe, die Gott den Vätern gab. Männer, die schließlich in der Lage sein sollten, ihre eigene Familie zu gründen. Er war gescheitert. Seine Söhne hatten keine Ehefrauen, die wie Kleidung für sie waren. Sie hatten noch nicht einmal einen Beruf, der ihnen Unabhängigkeit und Stolz geben konnte. Sie standen im Leben und sahen, wie es an ihnen vorbeizog.
    Mit den Jahren wurde er ein bisschen milder. Seine Söhne hatten ihr Leben verfehlt, so viel stand fest, sie hatten es verpfuscht, sowohl vor Gott als auch bei den Menschen, und er hatte ihnen das immer wieder gepredigt, auch wenn sie es nicht mehr hören wollten. Und dennoch sah er ein, ohne es gegenüber seinen Söhnen zuzugeben, dass das alles auch mit Dingen zu tun hatte, die sich dem Einfluss seiner Söhne entzogen.
    Bei ihm war das damals alles viel klarer gewesen. Es hatte nicht die geringsten Anzeichen dafür gegeben, dass die Neuankömmlinge als anerkannte Bürger in die Gesellschaft aufgenommen würden, auf der anderen Seite aber auch keine Ambitionen. Sie waren Gastarbeiter, und jahrzehntelang herrschte darüber ein stillschweigendes Einverständnis. Sie wurden nicht nach ihrer Meinung befragt, und sie hatten auch nicht den Drang, sie zu äußern. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie es war, wenn man nicht bedient wurde oder weniger Lohn als seine weiße Kollegen bekam. Aber so war es nun einmal.
    Diese Lebenseinstellung wurde nun radikal abgelehnt. Mit der Konsequenz, dass seine Jungen den richtigen Weg aus den Augen verloren hatten. Es fiel ihnen schwer, sich von anderen etwas sagen zu lassen, aus Dickköpfigkeit, aus Misstrauen, aus Unkenntnis.
    Er erinnerte sich noch an den Vorfall mit dem Kirschbaum. Es war das erste Mal gewesen, dass seine Söhne, damals sieben und zehn Jahre alt, von einem Polizisten nach Hause gebracht wurden. Es sollte nicht bei diesem einen Vorfall bleiben. Er hatte am Stadtrand von Antwerpen ein Häuschen gemietet, in das er seine Familie hatte nachkommen lassen. Das Haus lag neben einem großen Wiesengrundstück. Seine Kinder fanden es wunderbar, dort herumzutollen und auf Entdeckungstour zu gehen. Eines Tages stießen seine Söhne während einer dieser Touren auf einen Kirschbaum. Ohne groß darüber nachzudenken, kletterten die Kinder in den Baum, um reife Kirschen zu essen.
    Als der Besitzer sie dort entdeckte, wurde er fuchsteufelswild. Wie ein Irrer kreiste er mit der Harke in der Hand um den Baum herum und zwang die verängstigten Jungen herunterzukommen. Er nahm die beiden Bengel beim Kragen und schloss sie laut fluchend und mit viel Gezeter in einen Schuppen ein. Es dauerte offenbar Stunden, bis der gerufene Polizist vom Revier kam und die Kinder befreite, die bis dahin vollkommen eingeschüchtert und verängstigt in der dunklen Hütte gehockt hatten. Der Kleinere von ihnen hatte noch ein paar Kirschen in der Hand. Vor lauter Angst hatte er sie zu Matsch zerdrückt und ließ sie erst fallen, als sein Vater die Haustür öffnete und mit Überraschung den Polizisten

Weitere Kostenlose Bücher