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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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sich sofort wieder wie ein Kind, das nach Hause kommt, müde, aber glücklich.
    Das Wiedersehen mit den Verwandten hatte einen läuternden Effekt auf ihn. Er hatte eine Großtante, und jedes Jahr, wenn er sich von ihr verabschiedete, war er fest davon überzeugt, dass es ein Abschied für immer sei. Doch von Jahr zu Jahr behielt er zum Glück Unrecht. Sie schien von demselben Material zu sein wie die bizarren Berge, von denen das Dorf umringt war, stark und unerschütterlich.
    Trotz ihres verwitterten und sonnengegerbten Gesichts besaß sie noch einen scharfen Verstand. Sie war das Gedächtnis des Dorfes. Sie konnte sich sowohl an die fetten als auch an die mageren Jahre erinnern. Bis in jedes Detail konnte sie seine Hochzeitsfeier, vor fast vierzig Jahren, wiederaufleben lassen. So zum Beispiel auch die Geschichte mit Omar und Hmidou N’Allal, seinen beiden Onkeln, die auf seiner Feier nach jahrelanger verbitterter Fehde wieder miteinander gesprochen hatten. Alle waren sie entzückt gewesen, und sie schienen sich fast mehr über diese Versöhnung als über die Hochzeit zu freuen.
    Es war ein gesegnetes Jahr gewesen, das Jahr seiner Heirat. Viele junge Männer kehrten zum ersten Mal nach Hause zurück. In ihrem Gepäck hatten sie wunderbare Geschichten und schöne Geschenke, mit denen sie die Trauer verscheuchten, in die das Dorf versunken war.
    Das ganze Dorf befand sich in hellem Aufruhr, denn einige Hochzeiten standen bevor. Und die erste war seine. »Wie ein Prinz hast du ausgesehen, mein Junge, in diesem feinen Anzug.« Die Augen seiner Großtante leuchteten. Jedes Jahr hauchte sie der Geschichte seiner Hochzeit neues Leben ein und erzählte Besonderheiten, die sie im Jahr zuvor nicht enthüllt hatte. Jedes Jahr fühlte er sich wie ein kleiner Junge, der sich im Bann einer magischen Märchenerzählerin befand.
    Er musste lächeln, wenn er daran dachte. Der Anzug war das Erste gewesen, was er sich in Belgien gekauft hatte. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie er sich damals gefühlt hatte. Von einem Tag auf den anderen befand er sich plötzlich in einer befremdenden und wundersamen Welt. Er war aus dem Himmel gefallen.
    Es hatte geregnet, als er dort ankam. In solchen Massen kam in seinem Dorf nie der Regen herunter. Auch die Straßen waren fremd, die seltsamen Steine, mit denen sie gepflastert waren, schienen von Menschenhand gemacht zu sein. Sie waren anders als die Steine und der Sand in seinem Dorf. In der neuen Welt war alles aus Beton, alles war streng und linear. Die Tage waren bis in jede Sekunde eingeteilt. Alles war abgemessen und gewogen, nichts zu wenig, nichts zu viel. Sogar das Lächeln war nicht maßlos.
    Die Flamani waren ein höchst seltsames Volk. Frauen mit blondem Haar, Frauen mit sehr wenig Haar und Frauen mit kurzen Röcken. Manchmal trugen sie einen Hut, aber nie ein Kopftuch. Und sie besuchten Kneipen, manchmal in Gesellschaft ihres Mannes. Ihre Sprache faszinierte ihn. »Guten Tag« oder »bonjour« klangen nicht wie »salam aleikum« , aber sie bedeuteten fast dasselbe.
    Von seinem ersten Lohn kaufte er sich einen ordentlichen Anzug mit Krawatte, damit er sich mit dieser Welt in Einklang befand. Und er ließ ein Schwarzweißfoto von sich machen, das er nach Hause schickte. Ein Jahr darauf feierte er in diesem Anzug seine Hochzeit.
    Er hatte das Gefühl, dies hier sei die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Mit seinem jugendlichen Enthusiasmus packte er jede Chance beim Schopf. Er arbeitete für zwei, am Tag und auch in der Nacht. Sein erster Job war in einer Farbenfabrik. Gemeinsam mit seinen muhadschirin -Freunden, Männern, die er dank der Migration kennengelernt hatte – Boulif war einer von ihnen –, hatte er sich eine kleine Wohnung am Stadtrand von Brüssel gemietet. Damals zahlten sie monatlich fünfhundert belgische Franken Miete, ein Brot kostete drei Franken. Es war erstaunlich, wie viel mehr man damals für sein Geld bekam. Es gab viel mehr baraka als heute, fand er.
    Seine Freunde waren seine neue Familie. Sie kannten ein ander gut. Einen Transport zur Fabrik gab es damals nicht, und so liefen sie täglich fast anderthalb Stunden am Kanal von Brüssel entlang, um zu ihrer Arbeitsstelle zu gelangen. Sie stellten keine Fragen, zweifelten nichts an, sie wollten einfach nur arbeiten und weiterkommen.
    Sie besaßen nichts. Keine Briefe, keine Fotos. Keine Erinnerungsstücke, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und Geschichten erzählten.

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