Ueber die Liebe und den Hass
Anekdotische Bausteine eines Menschenlebens. Sie hatten nur ihre Träume und ihren Körper. Und das musste ausreichen, um ihre Welt komplett neu zu errichten, ohne sich dabei selbst zu verlieren.
Heute schien es, als hätten sie ein Leben geführt, ohne Spuren zu hinterlassen. Ihre Fußstapfen waren mit der Zeit verwischt. Sie kamen und sie gingen, keiner, der ihre Namen gekannt hätte, geschweige denn ihre Wünsche oder Sorgen. Man wusste, woher sie kamen, man wusste es vage, doch was sie mitgemacht hatten, was sich in ihren Köpfen abspielte, das war unbekannt und würde auch unbekannt bleiben, denn sie waren nicht sehr gesprächig. Sie waren Männer, die handelten. Männer, die sich nicht mit Belanglosigkeiten abgaben. Und sie kamen weiter. Fielen nie zurück. Nur nicht zögern. Das Leben war nichts für Zaghafte, jedenfalls nicht dort, wo sie herkamen.
Er hatte das Gefühl, dass er diese eindeutige und gradlinige Sicht auf die Welt nicht an seine Jungen hatte weitergeben können. Für sie bestand das Leben nicht daraus, zwischen Haupt- und Nebensächlichkeiten zu unterscheiden, sondern zwischen allem und nichts.
Sie stellten alles zur Debatte. Sich selbst, die anderen, Gott. Und das war der Punkt, wo die Sache aus dem Ruder geriet. Wer Gott in Zweifel stellte, der konnte nicht auf seine Barmherzigkeit hoffen. Und wer der Überzeugung war, dass er das Leben auch ohne Gottes Barmherzigkeit meistern konnte, der war ein Verirrter. Der Gedanke an den Zustand, in dem seine Jungen sich befanden, war so unerträglich für ihn, dass sich ihm jede Faser seines Körpers zusammenzog. Es tat ihm in der Seele weh. So hatte er das nicht gewollt. Er hatte versagt, und er konnte es nicht mehr rückgängig machen. Ihm wurden die Knie weich. Er versuchte sich auf die an ihm vorüberziehende Landschaft zu konzentrieren.
Er musste nirgendwo ankommen. Das hier war seine Bestimmung. Die Reise gab ihm Hoffnung, enthielt ein Versprechen, von dem er genau wusste, dass es nie eingelöst würde. Weiterfahren. Er musste weiterfahren. Hunderte und Aberhunderte Kilometer auf der Autobahn. Stunden, Tage und Nächte wurden gegen Kilometer eingetauscht. Inzwischen waren es Hunderttausende.
Früher hatte man noch deutlich erkennen können, dass man von dem einen in das andere Land fuhr. Jedes Land, das sie passierten, hatte seine Eigenheiten. Vor allem Spanien hatte sich während der letzten Jahre verändert. Europa zeigte sich immer stärker, wohingegen Spanien allmählich verblasste. Er vermisste die verwahrlosten Landstraßen, die sich von Ortschaft zu Ortschaft schlängelten und bei den Hafenstädten Algeciras oder Almería ankamen, nahe dem Ziel Marokko.
Eine solche Reise hatte früher leicht fünf Tage gedauert. Und heute konnte man Spanien in einer nahezu geraden Linie durchqueren, nur ganz im Süden gab es eine Autobahn, die sich durch die Berge schlängelte. Kein Dorf, nirgendwo. Stattdessen große moderne Tankstellen zu beiden Seiten der Autobahn. Dort gab es alles. Manche hatten sogar eine mezquita , eine Moschee, und manchmal boten sie auf der Karte eine tajine an, ein marokkanisches Schmorgericht. Die Spanier wussten, wie sie mit Massentourismus umzugehen hatten, überlegte er, auch wenn Spanien nicht das Ziel der vielen Marokkaner war, die alljährlich nach Hause zurückkehrten, jedenfalls bislang noch nicht.
Er sah auf und bemerkte, dass Boulif gegen den Schlaf ankämpfte.
»Halt mal bei der Tankstelle an, Boulif, dann fahr ich weiter.«
»Willkommen im Hier, mein Freund! Ich dachte, du würdest mit offenen Augen schlafen. Wo warst du mit deinen Gedanken?«
»Kannst du dich noch an unseren ersten Job in der Farbenfabrik erinnern? Und dass ich mich dort immer an dem durchdringenden Geruch gestört habe?«
»Da kannst du sagen, was du willst, das war damals noch echte Arbeit, stimmt’s? Du weißt doch, dass Ali Aghzar an dem scharfen Zeug gestorben ist. Krebs mit neunundvierzig!«
» Allah i rahmu . Gott hab ihn selig.«
»Amin.«
Ali Aghzar war ein unvergesslicher Mann. Er war ein Urriaguel, von den Aîth Ahros. Ein zähes Volk aus dem Rif. Und er besaß alle Merkmale dieses Volkes: klein, gedrungen und mit Haaren auf den Zähnen.
In der Fabrik gab es einen Belgier, der sehr offensichtlich mit seiner Abneigung gegenüber Marokkanern zu kämpfen hatte und sich zu beherrschen versuchte. Nur bei Ali gelang ihm das nicht. Roger, so hieß der Belgier, wurde von Alis Gestalt in die Irre geführt, was ihm schließlich auch
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