Über jeden Verdacht erhaben
wohl auch nicht, wie sehr sie auch so tat. Doch das war nicht wichtig. Es gab eine Chance, es gab etwas, wofür er kämpfen konnte, und es war noch nicht zu Ende.
Er hatte mehr als sechs Monate lang im Lefortowo-Gefängnis in Einzelhaft gesessen. Der einzige Mensch, den er außer den Gefängniswärtern getroffen hatte, war Larissa Nikolajewna, und das auch nur einige Male während des letzten Monats.
Sobald sie ihn festgenommen und ihm die Anzeige vorgelesen hatten, hatte er gewußt, daß es zu Ende war. Es hatte ihn sogar erstaunt, daß er in den folgenden Stunden noch am Leben war. Früher führte man überführte Verräter einfach auf den Innenhof und erschoß sie ohne viel Federlesens. Der GRU hatte außerhalb des Justizsystems der Gerichte gestanden. Es war ein System, das er übrigens selbst befürwortet hatte, da es keinerlei Grund gab, eine Menge unbefugter Personen, Juristen, Sekretärinnen und was auch immer an den Geheimnissen der Streitkräfte teilhaben zu lassen.
Jetzt hatte man ihm eine Anwältin gegeben, eine optimistische Anwältin sogar. Da sie eine Frau war, war bei ihr kaum mit Einsichten in militärische Gedankengänge zu rechnen. Er hatte drei Tage Zeit erhalten, die Anklageschrift des Staatsanwalts zu lesen, einen erbärmlichen Text in holpriger Sprache. Er hatte sogar einen Zeugen zu seiner Verteidigung laden dürfen, und dieser Zeuge war überdies kein x-beliebiger Mann.
Er hatte keinen Augenblick geglaubt, daß Carl ihn verraten hatte, selbst wenn das in logischer Hinsicht seine erste Schlußfolgerung hätte sein müssen. Es war vollständig irrational und gefühlsmäßig, so zu denken, und dennoch hatte er so gedacht. Es hätte nie Carl sein können, niemals sein Freund und hochgeachteter Kollege. Carl war ein Profi, ein fast pedantisch sorgfältig arbeitender Mörder auf der Gegenseite, ein sehr gefährlicher Feind, wenn man sein Feind war. Er war jedoch nicht der Mann, der einen Kollegen in einer schwierigen Situation im Stich ließ, und einen Freund würde er nie verraten können.
Als Jurij Tschiwartschew jetzt die Zusammenstellung des Staatsanwalts in dem zweiundachtzig Seiten langen, unnötig langen und nachlässig formulierten Text las, hatte er auch erfahren, wie sich alles zugetragen hatte. Wenn es ihn unter Umständen nicht das Leben kosten könnte, hätte er am liebsten über diesen Unfug gelacht.
Kurz nachdem das Unvermeidliche sich ereignet hatte, nämlich daß die russische Gruppe in London aufgespürt und eliminiert worden war, hatte Sir Geoffrey, der Chef der britischen raswedka , einen Orden erhalten. Es war zwar nicht das Viktoriakreuz, aber offenbar etwas ähnlich Vornehmes. Aus Höflichkeit hatte man Carl die gleiche Auszeichnung verliehen, und dazu war nicht viel zu sagen. Daß diese dummen Scheißkerle aber die frohe Nachricht veröffentlichten , war nicht gerade etwas, womit Carl oder irgendein anderer Kollege hatte rechnen können.
Eine russische Operation in London, die mißlingt. Er selbst, Jurij, war einer der wenigen, die theoretisch diese Informationen hätten durchsickern lassen können. Er war mit Carl befreundet. Und Carl war nachweislich zu der Zeit in London gewesen, als die russische Operation unschädlich gemacht wurde, und war danach belohnt worden: Es war nicht gerade schwer, diese einfachen Informationen zusammenzulegen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Jurij Tschiwartschew hatte auch sehr schnell gestanden, um die Qual abzukürzen. Und dann hatte er mehrere Monate lang in Erwartung des Todes gelebt. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, sie zögerten das Ende absichtlich hinaus, um ihn noch mehr zu quälen. Jedesmal, wenn sich ein Gefängniswärter seiner Zellentür näherte, hatte er – zumindest in der ersten Zeit – geglaubt, daß jetzt das Ende gekommen sei.
Und jetzt saß er hier. Trug saubere Kleidung, duftete gut und war auf dem Weg zu einem Prozeß, bei dem er sich sogar würde verteidigen können.
Selbst wenn alles zum Teufel ging, war es doch viel besser, wenn es so kam. Er hatte richtig gehandelt und würde sie sicher dazu bringen können, das zu verstehen. Die politische Analyse war so einfach, daß selbst ein Militärrichter den Zusammenhang begreifen mußte. Das war zwar keinerlei Garantie, und Jurij Tschiwartschew hatte keine sonderlich hohe Meinung von den Militärrichtern der Sowjetarmee, die er eher für eine Art bessere Malayen hielt. Doch das Schlimmste, was ihm jetzt noch passieren konnte, war, daß er sterben
Weitere Kostenlose Bücher