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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Ihn überkam ein Impuls, sich nicht umzudrehen. Dann überlegte er es sich doch und winkte seinem Vater demonstrativ und freundlich zu. Krach und Aufruhr von Seiten seines Vaters würden ihm nicht zum Vorteil gereichen.
    »So, das wäre geschafft«, seufzte der Vorsitzende, als die Türen sich schließlich hinter dem immer noch leise protestierenden Obersten in Ausgehuniform schlossen. »Nun, wenn der Genosse Sekretär jetzt beginnen könnte, die Gesetzesparagraphen vorzulesen, die in Frage kommen könnten!«
    »Ja, Genosse Vorsitzender!« sagte der Sekretär mit vor Nervosität leicht rauher Stimme. »Die Vorschriften, die hier in Frage kommen könnten, sind also Artikel 64 A und Artikel 65 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderativen Republik, Besonderer Teil, in dem es um Verbrechen gegen den Staat geht.«
    Danach begann er, die langen Gesetzestexte herunterzuleiern. In erster Linie ging es um Landesverrat, der offenbar auf mancherlei Weise begangen werden konnte; »das heißt, wenn ein russischer Staatsbürger der Souveränität des Landes schadet, der Kontrolle des eigenen Territoriums, der Sicherheit des Staates oder den staatlichen Streitkräften, ebenso, wenn er zum Feind überläuft, Spionage treibt, Geheimnisse des Staates oder der Streitkräfte an eine fremde Macht verkauft, zu einer fremden Macht überläuft, feindselige Handlungen gegen den Staat begeht«, und so weiter. Als Strafe für dieses Verbrechen waren zehn bis fünfzehn Jahre Gefängnis sowie Beschlagnahme allen Eigentums möglich. Oder die Todesstrafe sowie die Beschlagnahme allen persönlichen Eigentums.
    Jurij Tschiwartschew brummte ironisch, zwischen fünfzehn Jahren Gefängnis und der Todesstrafe bestehe ein bemerkenswerter Unterschied. Ob etwa der, der fünfzehneinhalb Jahre Gefängnis verdient habe, zum Tode verurteilt werde wie der, der eigentlich dreißig Jahre verdient hätte? Seine Anwältin versetzte ihm erneut einen Rippenstoß, so daß er sich schnell zusammennahm und sogar einen interessierten Eindruck zu machen versuchte, als er jetzt darüber aufgeklärt werden sollte, was unter Spionage zu verstehen sei.
    Jetzt wurde eine ebenso lange Litanei heruntergebetet wie eben über den Landesverrat, doch diesmal endete es mit einem Strafmaß von sieben bis fünfzehn Jahren Gefängnis plus natürlich der Beschlagnahme des gesamten persönlichen Eigentums. Oder, ebenso selbstverständlich, Todesstrafe und Beschlagnahme allen persönlichen Eigentums.
    Der Vorsitzende nickte müde und bat den Sekretär dann, die eigentliche Anklage vorzutragen.
    Jurij Tschiwartschew erkannte, daß er jetzt still sitzen bleiben sollte, um sich etwas anzuhören, was er schon gelesen hatte. Außerdem war ihm klar, daß es mehrere Stunden in Anspruch nehmen würde.
    Darin lag eine bemerkenswerte Ironie, an einem Prozeß teilnehmen zu müssen, bei dem es um Leben oder Tod ging, nur um sich dann über alle Maßen gelangweilt zu fühlen. Es ging jedoch offenbar nicht anders.
    Er betrachtete die drei Richter, die alle eine Lesebrille aufgesetzt hatten und sich zumindest den Anschein gaben, als läsen sie im stillen mit. Der Vorsitzende war ein Generaloberst in Armeeuniform, und nach dem, was Jurij Tschiwartschew an der Uniform ablesen konnte, mußte der Mann Anfang Siebzig sein, da er den Orden des Vaterländischen Krieges zweiter Größe erhalten hatte, und das war nicht gerade etwas, womit er prahlen konnte.
    Die beiden anderen Richter waren jünger. Rechts vom Vorsitzenden saß ein Generalleutnant der Luftwaffe, der offenbar in Afghanistan manches geleistet hatte. Vielleicht hatte er Deserteure so verurteilt, wie sie es verdienten? Und links vom Vorsitzenden saß ein Vizeadmiral, der nichts anderes zu sein schien als ein Militärrichter, der Karriere gemacht hatte. An seiner Uniform waren keine besonderen Spuren von rein militärischen Einsätzen zu sehen.
    Jurij Tschiwartschew grübelte darüber nach, ob es ein Vorteil oder ein Nachteil war, daß er im Gegensatz zu den Richtern eine richtige und überdies sogar glänzende militärische Karriere hinter sich hatte. Vielleicht fühlten sie sich eifersüchtig und würden deshalb besonders hart zuschlagen. Vielleicht würden sie es als schwierig empfinden, einen Mann im Generalsrang zu verurteilen, da sie im Justizsystem der Streitkräfte meist damit befaßt waren, Diebe und Schläger unter Wehrpflichtigen und Unteroffizieren zu verurteilen. Vielleicht hatten sie bisher nicht einmal einen Prozeß wegen

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