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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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murmelte Jurij Tschiwartschew. »Aber vielleicht kann er mit meinem Vater sprechen? Wir können ja einem Offizier des Nachrichtendienstes einer fremden Macht keine Schweigepflicht auferlegen? Damit würden wir uns ja lächerlich machen.«
    »Eine sehr interessante Frage, General«, sagte sie nachdenklich.
    »Wirklich, eine sehr interessante Frage. Ich werde dem Admiral das Problem jedenfalls vorlegen. Er soll allerdings erst übermorgen aussagen. Ich fürchte, es wird heute ein recht langweiliger Tag.«
    »Was habe ich heute zu tun?« fragte Jurij Tschiwartschew.
    »Erwartet man von mir, daß ich die Gründe für meine Verteidigung darlege, oder etwas in der Richtung?«
    »Nein«, erwiderte sie und drückte mit einer entschlossenen Handbewegung die halb gerauchte Zigarette aus. »Heute, mein lieber General, haben Sie nur zwei Dinge zu tun. Erstens müssen Sie bestätigen, wer Sie sind. Dann sollen Sie sagen, daß Sie die Anklage bestreiten, daß sie sich für unschuldig halten. Möglicherweise wird man Ihnen dann einige Fragen nach den Gründen für Ihre Behauptung stellen. Das ist alles. Der Rest der Zeit wird dazu verwendet, die Anklageschrift zu verlesen, also das, was man Ihnen vorwirft.«
    Als Jurij Tschiwartschew kurz darauf in den Gerichtssaal geführt wurde, fühlte er sich fast enttäuscht. Er war darauf eingestellt gewesen, jetzt endlich für seine Sache kämpfen zu können, doch statt dessen sollte er offenbar den größeren Teil seines ersten Tages damit zubringen, sich anzuhören, wie ein anderer etwas vorlas.
    Immerhin war es ein ansehnlicher Gerichtssaal, Granit, Marmor, kunstvoller Stuck mit Goldornamenten an der Decke, doch vor allem roch er sauber.
    Als Larissa Nikolajewna ihm unauffällig zeigte, wo sie sitzen sollten, nämlich an zwei kleinen Tischen unten rechts vor dem Richterpodium, sah er sich um. Unter den wenigen Zuhörern, die sämtlich Militärs waren, entdeckte er seinen Vater. Der alte Mann hatte sich in seine Ausgehuniform gekleidet, wohl um seine rund zwanzig Auszeichnungen aus dem Großen Vaterländischen Krieg und der Zeit danach herzeigen zu können. Sein Hals war jedoch schmal wie der eines Vogels. Am Uniformkragen war noch viel Platz, und außerdem hatte er sich beim Rasieren geschnitten.
    Jurij Tschiwartschew versuchte seinem Vater aufmunternd zuzulächeln und legte einen Zeigefinger an den Mund, um anzudeuten, daß sie nicht miteinander sprechen dürften. Er gab ihm schnell durch einen nach oben gedrehten Daumen zu verstehen, daß er guten Mutes sei. Dann zog er seiner sehr eleganten Anwältin den Stuhl heran. Die Geste wirkte in diesem Zusammenhang jedoch ein wenig fehl am Platz. Dann setzte er sich schnell hin, und zwar mit dem Rücken zu seinem Vater.
    Die drei Richter betraten den Saal um Punkt 10.00 Uhr, und der Sekretär, der seinen Platz etwas unterhalb des Richtertischs einnahm, stand auf und schrie, jetzt müßten alle aufstehen. Dann erklärte er, das höchste Gericht des Militärkollegiums der Russischen Föderativen Republik eröffne jetzt seine Sitzung.
    »Ist der Angeklagte anwesend?« rief er in den Saal und machte dabei eine streng prüfende Miene, als verlange er in diesem Punkt tatsächlich Aufklärung. Larissa Nikolajewna versetzte Jurij Tschiwartschew mit dem Ellbogen einen unauffälligen Rippenstoß, um ihn darüber aufzuklären, daß er diese Frage offensichtlich beantworten sollte.
    »Ja, Genossen Richter!« sagte er und versuchte ohne Erfolg, die Blicke der drei Richter einzufangen. »Generalleutnant Jurij Gennadjewitsch Tschiwartschew meldet sich zur Stelle!«
    »Gut. Bitte setzen Sie sich, Genosse General!« sagte der Vorsitzende. Es war das erste, was er geäußert hatte, doch er vermied es immer noch, Jurij Tschiwartschew anzusehen.
    Danach folgte eine kurze Prozedur, für die der Sekretär verantwortlich war. Es ging um die Feststellung der Identität des Angeklagten. Der Sekretär erkundigte sich, ob eventuelle Einwände gegen die Hauptverhandlung vorlägen. Überdies fragte er, ob der Angeklagte während der vorgeschriebenen Zeit von mindestens drei Tagen die Anklageschrift habe lesen können, und so weiter. Als das erledigt war, übernahm der Vorsitzende und erklärte kurz angebunden, jetzt könne die Verhandlung beginnen. Alle Unbefugten müßten deshalb den Gerichtssaal verlassen, da sowohl die Anklage als auch die bevorstehende Verhandlung der Geheimhaltung unterlägen.
    Jurij Tschiwartschew hörte, wie sein Vater im Hintergrund protestierte.

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