Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
ich haben eindeutig ein Rad ab und schlingern umher, jeder in eine andere Richtung.
Beweisstück A: Grama verfolgt mich durchs ganze Haus – mit einer Teekanne in der Hand. Die Kanne ist voll. Ich kann sehen, wie Dampf aus der Tülle steigt. In der anderen Hand hält sie zwei Becher. Tee trinken, das ist etwas, das Grama und ich zusammen getan haben, vorher. Spätnachmittags haben wir am Küchentisch gesessen und Tee getrunken und geredet, ehe die anderen nach Hause kamen. Aber ich will nicht mehr mit Grama Tee trinken, weil mir nicht nach Reden ist, was sie weiß, aber noch immer nicht akzeptiert hat. Also folgt sie mir die Treppe hinauf und steht nun mit der Kanne in der Hand in der Tür zum Allerheiligsten.
Ich falle aufs Bett, nehme mein Buch und gebe vor zu lesen.
»Ich will keinen Tee, Grama«, sage ich und schaue von Sturmhöhe auf, das ich verkehrt herum halte, wie ich bemerke, sie aber hoffentlich nicht.
Ihr Gesicht wird lang. Eine epische Länge.
»Gut.« Sie stellt einen Becher auf den Boden, füllt den anderen in ihrer Hand für sich selbst und nimmt einen Schluck. Mir entgeht nicht, dass sie sich die Zunge verbrennt, aber sie tut so, als wäre nichts. »Gut, gut, gut«, leiert sie und nimmt noch einen Schluck.
Seit Ferienbeginn läuft sie auf diese Art hinter mir her. Normalerweise hat sie als Gartenguru im Sommer am meisten zu tun, doch sie hat allen Klienten erzählt, sie würde bis
zum Herbst pausieren. Statt also in ihrer Eigenschaft als Guru unterwegs zu sein, schneit sie bei Maria rein, wenn ich im Laden bin, oder in der Bibliothek, wenn ich Pause habe, oder sie kötert mir zum Flying Man’s hinterher und läuft auf dem Pfad auf und ab, während ich mich auf dem Rücken treiben und meine Tränen ins Wasser tropfen lasse.
Doch die Teezeit ist das Schlimmste.
»Meine kleine Wicke, das ist nicht gesund …« Ihre Stimme schmilzt zu dem vertrauten Fluss der Sorge. Ich denke, sie redet von meiner Zurückgezogenheit, doch als ich zu ihr rüberschaue, wird mir klar, dass es um diese andere Sache geht. Sie starrt Baileys Kommode an, das Kaugummipapier, das überall herumliegt, die Haarbürste mit dem Netz aus ihren schwarzen Haaren, das zwischen die Borsten gewoben ist. Ich beobachte, wie ihr Blick im Raum herumstreift zu Baileys Kleidern über der Lehne ihres Schreibtischstuhls, zum Handtuch, das über den Bettpfosten geworfen worden ist, zu Baileys Wäschekorb, der noch immer von ihrer Schmutzwäsche überquillt … »Lass uns einfach ein paar Sachen zusammenpacken.«
»Ich mach das, das hab ich doch gesagt«, flüstere ich, damit ich sie nicht aus voller Kehle anbrülle. »Ich mach das schon, Grama, wenn du aufhörst, hinter mir herzupirschen, und mich in Ruhe lässt.«
»Okay, Lennie«, sagt sie. Ich muss nicht aufschauen, um zu wissen, dass ich ihr wehgetan habe.
Aber als ich aufschaue, ist sie weg. Sofort will ich hinter ihr herrennen, ihr die Teekanne aus der Hand nehmen, meinen Becher füllen und mich zu ihr setzen und einfach
nur jeden meiner Gedanken und jedes Gefühl ausschütten.
Aber ich tu es nicht.
Ich höre, wie die Dusche aufgedreht wird. Grama verbringt jetzt übermäßig viel Zeit in der Dusche und ich weiß, dass sie das tut, weil sie glaubt, sie könnte unter dem Strahl weinen, ohne dass Big und ich es hören. Wir hören es.
Beweisstück B: Ich wälze mich auf den Rücken und wenig später halte ich mein Kissen in den Armen und küsse die Luft mit einem peinlichen Aufwallen von Leidenschaft. Nicht schon wieder, denke ich. Was hab ich bloß? Was für eine Sorte Mädchen will denn jeden Jungen auf einer Beerdigung küssen, will einen Jungen in einem Baum anfallen, nachdem sie in der Nacht davor mit dem Freund ihrer Schwester herumgemacht hat? Apropos, was für eine Sorte Mädchen macht mit dem Freund ihrer Schwester herum – Punkt .
Ich will einfach nicht länger über mein eigenes Gedankenleben unterrichtet werden, ich melde mich vom Newsletter ab, denn ich kapier es sowieso nicht. Vorher hab ich eigentlich kaum mal an Sex gedacht, und irgendwas angefangen hab ich schon gar nicht. Drei Jungs auf drei Partys in vier Jahren: Casey Miller, der nach Hotdogs schmeckte, Dance Rosencrantz, der in meine Bluse gegrapscht hat wie in die Popcornschachtel im Kino. Und Jasper Stolz in der achten Klasse, weil Sarah mich in eine Runde Flaschendrehen reingezogen hatte. Jedes Mal habe ich mich innerlich wie ein Blobfisch gefühlt. Nicht wie Heathcliff und Cathy, wie Lady Chatterley und
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