Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
werden. Den Geschichten nach fallen kurz nach dem Essen die Kleider wie Blätter zu Boden.
Ich beobachte, wie Joe den Gigantismus meines Onkels und seinen wahnsinnigen Schnurrbart aufnimmt. Was er
sieht, scheint ihm zu gefallen, denn sein Lächeln macht den Raum gleich um mehrere Stufen heller.
»Stimmt, wir sind erst vor zwei Monaten aus der Stadt hierher gezogen, davor waren wir in Paris -« Hmm. Vermutlich hat er den Warnhinweis an der Tür nicht gelesen, laut dem in einer Bannmeile um Grama herum das Wort Paris keinesfalls laut ausgesprochen werden darf. Zu spät. Sie singt ihr frankophiles Loblied schon aus voller Kehle, aber Joe scheint ihren Fanatismus zu teilen.
Er klagt: »Mann, wenn wir doch immer noch da wohnten -«
»Aber, aber«, unterbricht sie ihn und droht ihm mit dem Finger, als wollte sie ihn schelten. O nein. Ihre Hände haben bereits ihre Hüften gefunden. Und schon geht es los. Sie leiert: »Ach, wenn ich doch nur Räder am Hintern hätt’, ich wär’ ein Leiterwagen.« Eine von Gramas üblichen vorbeugenden Maßnahmen gegen Gejammer. Ich bin entsetzt, aber Joe kann sich nicht halten vor Lachen.
Grama hat sich verliebt. Ich mach ihr keinen Vorwurf. Sie hat ihn bei der Hand genommen und begleitet ihn nun auf einer Führung durchs Haus, zeigt ihm ihre biegsamen Frauen, von denen er – nach seiner Lautgebung zu urteilen – ordnungsgemäß beeindruckt ist. Auf Französisch, wie ich vielleicht hinzufügen darf. Somit kann Big seine Jagd nach Käfern wieder aufnehmen und ich kann an die Stelle meiner Löffelfantasien Joe Fontaines Mund setzen. Ich kann die beiden im Wohnzimmer hören und weiß, dass sie vor der Halbmutter stehen, denn jeder, der ins Haus kommt, reagiert auf dieselbe Weise darauf.
»Das ist so anrührend«, sagt Joe.
»Hm, ja … das ist meine Tochter Paige. Die Mutter von Lennie und Bailey, sie ist schon sehr, sehr lange weg …« Ich bin schockiert. Aus freien Stücken spricht Grama fast nie von Mom. »Eines Tages werde ich dieses Bild vollenden, es ist noch nicht fertig …« Grama hat immer gesagt, sie wird es fertigstellen, wenn Mom wiederkommt und ihr Modell stehen kann.
»Komm jetzt, wir wollen essen.« Durch drei Wände hindurch kann ich den Herzschmerz in Gramas Stimme hören. Für sie wiegt Moms Abwesenheit seit Baileys Tod so viel schwerer. Immer wieder ertappe ich sie und Big dabei, wie sie die Halbmutter mit einer neuen, beinahe verzweifelten Sehnsucht ansehen. Für mich ist ihre Abwesenheit auch spürbarer geworden.
Mom, das war etwas, was Bailey und ich vor dem Zubettgehen gemacht haben. Wir haben uns vorgestellt, wo sie war und was sie gerade tat. Ich weiß nicht, wie ich ohne Bailey an Mom denken soll.
Als sie wieder in die Küche kommen, kritzele ich ein Gedicht auf meine Schuhsohle.
»Ist dir das Papier ausgegangen?«, fragt Joe.
Ich setze den Fuß auf den Boden. Argh. Was war noch dein Hauptfach, Lennie? Ach, stimmt ja: Trottelogie.
Joe setzt sich an den Tisch, ganz Arme, Beine und anmutige Bewegung, ein Krake.
Wieder starren wir ihn an, immer noch nicht sicher, was wir von dem Fremden in unserer Mitte halten sollen. Der Fremde hingegen scheint sich mit uns ziemlich wohlzufühlen.
»Was ist mit der Pflanze los?« Er zeigt auf die verzweifelnde Lennie-Topfblume mitten auf dem Tisch. Die sieht aus, als hätte sie Lepra. Wir verstummen alle, denn was sollen wir über meinen eingetopften Doppelgänger sagen?
»Das ist Lennie, sie stirbt, und ehrlich gesagt wissen wir nicht, was wir mit ihr anstellen sollen«, dröhnt Big mit großer Endgültigkeit. Es ist so, als würde der Raum selbst lang und voller Unbehagen Luft holen, und dann brechen Grama, Big und ich im selben Augenblick total zusammen – Big haut auf den Tisch und bellt vor Lachen wie ein volltrunkener Seehund, Grama lehnt sich gegen die Arbeitsplatte und keucht und japst nach Luft und ich krümme mich und versuche inmitten von unkontrolliertem Keuchen und Schnauben zu atmen, jeder von uns wird total überwältigt von einem hysterischen Anfall, wie wir ihn schon seit Monaten nicht mehr erlebt haben.
»Tante Gooch! Tante Gooch!«, kreischt Grama zwischen Lachsalven. Tante Gooch, auf diesen Namen haben Bailey und ich Gramas Lachen getauft, denn es kommt ohne Vorwarnung wie eine verrückte Verwandte, die mit ihrem pinken Haar vor der Haustür steht, mit einem Koffer voller Luftballons und nicht der geringsten Absicht, wieder abzureisen.
Grama keucht: »Ach du meine Güte, ojeoje, ich
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