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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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ist los?«, frage ich.
    »Ich möchte nur schön aussehen, ist doch kein Verbrechen, oder? Schließlich hab ich mein Sex-Appeal ja nicht verloren.« Nicht zu fassen, Grama hat gerade Sex-Appeal gesagt. »Nur eine kleine Dürreperiode, mehr nicht«, murmelt sie leise. Ich dreh mich um und schau sie an. Sie zuckert die Himbeeren und Erdbeeren und läuft so rot an wie diese.
    »O mein Gott, Grama! Du hast dich verknallt.«
    »Himmel, nein!«
    »Du lügst. Das seh ich.«
    Dann kichert sie wild und keckernd. »Ich lüge! Na, was erwartest du denn? Wo du doch schon so lange verrückt nach Joe bist, und jetzt Big und Dorothy … vielleicht hab ich mir was eingefangen. Liebe ist ansteckend, das wissen alle, Lennie.«
    Sie grinst.
    »Na, und wer ist es? Hast du ihn neulich Abend im Saloon kennengelernt?«
    Das war seit Monaten das einzige Mal, das sie unter Leute gegangen ist. Grama ist nicht der Typ für Onlinedates. Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie das ist.
    Ich stemme die Hände auf die Hüften. »Wenn du es mir nicht sagst, werde ich morgen eben Maria fragen. Nichts in Clover entgeht ihr.«

    Grama kreischt: »Ich schweige wie ein Grab, kleine Wicke.«
    Egal, wie ich auch bohre, in den Stunden von Pies, Kuchen und sogar ein paar Schüsseln Beerenpudding, ihre lächelnden Lippen bleiben versiegelt.
     
    Nachdem wir in der Küche fertig sind, hole ich meinen Rucksack, den ich vorher schon gepackt habe, und mache mich auf den Weg zum Friedhof. Sobald ich den Pfad erreiche, fange ich an zu laufen. Die Sonne bricht in vereinzelten Flecken durch das Blätterdach, ich fliege also durch Licht und Dunkel und Dunkel und Licht, durch das flammend grelle Sonnenlicht in den einsamsten gespenstischen Schatten und wieder zurück, hin und her, von einem zum anderen und durch Stellen, an denen sich alles miteinander mischt und zu einem blatterleuchteten smaragdenen Traum wird. Ich renne und renne und dabei löst sich das seit Monaten an mir haftende Gespinst des Todes und fällt von mir ab. Ich laufe schnell und frei, schwebend in einem Moment ganz eigenen, lärmenden Glücks, meine Füße berühren kaum den Boden, als ich der nächsten Sekunde entgegenfliege, der nächsten Minute, Stunde, dem nächsten Tag, der nächsten Woche, dem nächsten Jahr in meinem Leben.
    An der Straße zum Friedhof breche ich aus dem Wald heraus. Die heiße Nachmittagssonne liegt träge auf allem, verliert sich zwischen den Bäumen und wirft lange Schatten. Es ist warm und der Duft von Eukalyptus und Kiefern schwer und überwältigend. Ich gehe den Pfad entlang, der sich zwischen den Gräbern hindurchschlängelt, lausche dem
Rauschen der Wasserfälle und erinnere mich daran, wie wichtig es mir wider alle Vernunft war, dass Baileys Grab an einer Stelle lag, wo sie den Fluss sehen, hören und sogar riechen konnte.
    Ich bin der einzige Mensch auf dem kleinen Friedhof auf dem Hügel und ich bin froh. Ich lasse meinen Rucksack fallen und setze mich neben den Grabstein, lege meinen Kopf dagegen, schlinge Hände und Arme darum. Wie warm der Stein an meinem Körper liegt. Wir haben diesen gewählt, weil der ein kleines Fach hat, so eine Art Reliquienschrein mit einer Metalltür, in die ein Vogel eingraviert ist. Er sitzt unter den eingemeißelten Worten. Ich fahre mit den Fingern über den Namen meiner Schwester, ihre neunzehn Jahre, dann über die Worte, die ich vor Monaten auf ein Stück Papier geschrieben und im Bestattungsinstitut Grama gegeben habe: Die Farbe Außergewöhnlich.
    Ich hole ein kleines Notizbuch aus meinem Rucksack. Darin habe ich alle Briefe übertragen, die Grama unserer Mutter in den letzten sechzehn Jahren geschrieben hat. Ich möchte, dass Bailey diese Worte bekommt. Sie soll wissen, dass es nie eine Geschichte geben wird, in der sie keine Rolle spielt, dass sie überall ist wie der Himmel. Ich öffne die Tür und schiebe das Buch in das kleine Fach und dabei höre ich ein Kratzen. Ich greife hinein und hole einen Ring heraus. Mir stockt der Atem. Er ist wunderschön, ein orangefarbener Topas von der Größe einer Eichel. Perfekt für Bailey. Toby hat ihn sicher für sie anfertigen lassen. Ich halte ihn in meiner Hand, von der Gewissheit durchbohrt, dass sie ihn nie zu sehen bekommen hat. Ich wette, mit dem Ring
wollten sie warten, bis sie uns endlich von ihrer Hochzeit und dem Baby erzählt hatten. Wie Bailey damit bei der großen Verkündung angegeben hätte. Ich lege ihn auf den Stein, wo ein Sonnenstrahl ihn trifft und ein

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