Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
ich. Doch sie beginnen auch mit einem erheblichen Vorsprung und mit einer Chance, die sie sich nicht
selbst erarbeiten mussten. Und diese Chance war ein entscheidender Erfolgsfaktor.
|32| Der Soziologe Robert Merton nannte dieses Phänomen den »Matthäus-Effekt«, nach einem Vers aus dem Matthäus-Evangelium des
Neuen Testaments: »Denn wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird in Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was
er hat, genommen werden.« Mit anderen Worten erhalten diejenigen, die bereits Erfolg haben, mit großer Wahrscheinlichkeit
weitere Chancen, die ihnen neue Erfolge ermöglichen. Die Reichen profitieren am meisten von Steuererleichterungen. In den
Schulen bekommen die besten Schüler die meiste Aufmerksamkeit und den besten Unterricht. Und im Eishockey erhalten die körperlich
am weitesten entwickelten neun- und zehnjährigen Jungen das beste Training und die meiste Spielpraxis. Erfolg ist das Resultat
dessen, was Soziologen als »sich akkumulierenden Vorteil« bezeichnen. Der spätere Eishockeyprofi ist zu Beginn seiner Karriere
vielleicht ein klein wenig besser als die gleichaltrigen Kinder. Dieser kleine Vorsprung eröffnet ihm jedoch eine Chance,
die diesen Unterschied vergrößert. Damit erhält das Kind wiederum neue Möglichkeiten, die den Abstand weiter vergrößern –
und so weiter, bis sich der Spieler in einen wirklichen Überflieger verwandelt hat. Doch er hat nicht als Überflieger angefangen.
Am Anfang war er lediglich ein bisschen besser.
Die zweite Schlussfolgerung aus dem Beispiel Eishockey ist, dass die Auswahlsysteme, mit denen wir zwischen Talentierten und
weniger Talentierten differenzieren, nicht besonders effektiv sind. Wir glauben, wenn wir so früh wie möglich mit Auswahlprogrammen
und Begabtenförderung beginnen, könnten wir sicherstellen, dass uns kein Talent durch die Lappen geht. Aber sehen wir uns
noch einmal den Kader der tschechischen Nationalmannschaft an: Aus den Monaten Juli, Oktober, November und Dezember ist kein
einziger Spieler vertreten und aus den Monaten August und September lediglich jeweils einer. Spieler, die in der zweiten Jahreshälfte
zur Welt kamen, wurden frustriert, übersehen oder gänzlich aus dem Sport gedrängt.
Damit wurde die Hälfte aller
potenziellen Fußballtalente Tschechiens vergeudet.
|33| Was also tun, wenn Sie ein sportlicher junger Tscheche sind und das Pech haben, in der zweiten Jahreshälfte zur Welt gekommen
zu sein? Fußball kommt jedenfalls nicht in Frage. Vielleicht können Sie in einer Sportart unterkommen, für die sich die Tschechen
begeistern, dem Eishockey. Aber Moment mal. (Vermutlich ahnen Sie schon, was jetzt kommt.) Sehen wir uns den Kader der tschechischen
Jugendnationalmannschaft an, die bei der Weltmeisterschaft des Jahres 2007 den fünften Platz belegte:
|34| Wer in den letzten vier Monaten des Jahres geboren wurde, kann also auch Eishockey getrost abhaken.
Sehen Sie, was unser Erfolgsverständnis bewirkt? Weil wir meinen, Erfolg sei ausschließlich das Ergebnis persönlicher Leistung,
versäumen wir es, andere auf dem Weg nach oben zu unterstützen. Wir stellen Regeln auf, mit denen wir Leistung verhindern.
Wir schreiben bestimmte Menschen vorzeitig ab. Wir zollen den Erfolgreichen übertriebene Bewunderung und den Erfolglosen übertriebene
Verachtung. Vor allem aber handeln wir zu passiv. Wir sind uns nicht bewusst, wie groß der Einfluss ist, den wir – die Gesellschaft
– darauf haben, wer Erfolg hat und wer nicht.
Wenn wir wollen, könnten wir uns eingestehen, wie wichtig willkürlich festgelegte Stichtage sind. Wir könnten beispielsweise
zwei oder drei nach Geburtsmonaten differenzierte Eishockeyligen einrichten. Die Spieler könnten sich getrennt voneinander
entwickeln und später in Auswahlmannschaften zusammengebracht werden. Wenn alle tschechischen und kanadischen Sportler, die
am Jahresende geboren wurden, eine faire Chance bekämen, dann hätten die jeweiligen Nationalmannschaften plötzlich die Wahl
unter der doppelten Anzahl von Spielern.
In den Schulen könnten wir ähnlich verfahren. Grundschulen und Mittelstufen könnten getrennte Klassen für die von Januar bis
April, die von Mai bis August und die von September bis Dezember Geborenen einrichten. Auf diese Weise könnten Kinder mit
gleich alten und gleich reifen Mitschülern lernen und konkurrieren. Das würde zwar möglicherweise einen geringfügig
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