Die Spionin im Kurbad
Diebstahl
Ich streckte vorsichtig meine Nase durch die Hecke. Alles ruhig hier in diesem Garten. Weit ruhiger als in dem Haus nebenan. Und meine vorsichtige Nase traf ein feiner, zarter Hauch von Futter. Was meinen Magen sofort zum Zwicken brachte.
Er war sehr, sehr leer.
Trotzdem – Gier war schädlich und Vorsicht immer geboten, wenn man in ein fremdes Revier trat. Menschenrevier in diesem Fall.
Ich schnüffelte.
Futter, fettes Futter.
Es war ein Risiko wert.
Leise kroch ich unter dem schützenden Laub hervor, um einen größeren Überblick zu erhalten. Da – auf einem langen Stuhl lag eine Frau. Ihr weißgrau gestreiftes Kleid hing bis zum Boden, die rechte Hand hielt ein Buch fest, in das sie aber nicht hineinschaute. Üblicherweise blätterten Menschen in diesen Papierbündeln. Wenn sie es nicht taten, war das meist ein Zeichen dafür, dass ihre Aufmerksamkeit erloschen war.
Ein paar Schritte näher, und ich konnte erkennen, dass dieser Zustand auch hier eingetreten war. Sie hielt die Augen geschlossen, ihr Atem ging ruhig.
Und neben dem Stuhl stand ein Tablett auf dem Boden.
Und auf dem Tablett stand ein Teller.
Und auf dem Teller lag ein Brötchen.
Und auf dem Brötchen lag eine dicke Scheibe Braten.
Futter, das nicht bewacht wird, gehört der Allgemeinheit. Und diese Allgemeinheit waren derzeit meine vier hungrigen Kinder.
Ich schlich geduckt näher. Ganz leise, ganz vorsichtig. Dann ein blitzschneller Tatzenschlag, und das Fleisch war meins. Ich packte es mit den Zähnen – köstlich! Der Geifer trat mir ins Maul. Aber mein Hunger war weniger wichtig als der der Kinder. Ich raste davon.
Als ich durch die Hecke schlüpfte, sträubte sich mein Schwanz.
Hatte die Frau mich etwa doch bemerkt?
Egal, hurtig den kleinen Hang hinauf, dann zu der Baumhöhle und gemaunzt.
Vierstimmiges Antwortmaunzen erklang, und ich zerrupfte mit den Krallen die Beute. Meine Kleinen machten sich darüber her. Sie hatten schon Zähne und brauchten nicht mehr ausschließlich meine Milch. Was eine gewisse Erleichterung darstellte, denn sie zu ernähren hatte mich viel Kraft gekostet. Die Jagdlage war schlecht dieses Jahr, die Mäuse waren weniger geworden, und meist starben sie ohne mein Zutun.
Aber die Kinder würde ich durchbringen. Es gab ja noch das Menschenrevier. Obwohl ich mir eigentlich geschworen hatte, ohne die Aufrechten zurechtzukommen. Das Leben einer wilden Streunerkatze war meine Wahl. Es bedeutete Unabhängigkeit und Herausforderung.
Aber wenn man Kinder hatte, musste man für sie sorgen. Notfalls sogar kurzfristig gegen eigene, hohe Prinzipien verstoßen.
Darum hatte ich meinen Nachwuchs auch schon etwas dichter an die Gärten getragen. Eine nette Höhle in einem alten, morschen Baumstamm diente uns derzeit als Heim. Und der Weg zu den Häusern war nicht allzu weit. Dennoch bereitete er mir einige Mühe. Ich war schlapp, ein böser Tritt in die Rippen schmerzte mich, wenn ich lange laufen musste, und manchmal tat mir mein Gedärm weh vor Hunger. Mein Fell war auch nicht mehr vom Feinsten. Struppig war es geworden, und etliche Zecken hatten sich hineinverirrt. Sie juckten, und wenn ich sie herauskratzte, fielen mir an den Stellen die Haare aus. Aber was bedeutet schon Schönheit. Schön war ich nie gewesen. Ein Mensch hatte bei meinem Anblick mal gelacht und mich Kuh-Katze genannt. Konnte schon stimmen, diese Viecher waren auch weiß mit dunklen Flecken.
Jedenfalls gab es da ein großes Haus, in dem Menschen verköstigt wurden. Hotel nannten sie es, und Gasthof zur goldenen Traube. Es wurde reichlich Futter dort verteilt, aber dennoch war es schwierig, unbemerkt etwas zu ergattern. Zu viele Leute belebten die Tische, zu schnell waren sie mit ihren Füßen, um einem die Rippen zu demolieren.
Eine Erfahrung, die ich nicht zu oft wiederholen wollte.
In dem Haus daneben ging es ruhiger zu, allerdings waren auch die Mahlzeiten karger. Die Frau, die dieses Logierhaus führte, war mir ein-, zweimal in die Quere gekommen. Sie war eine zänkische, geizige Witwe, die meinesgleichen vermutlich am liebsten in der Lahn ertränkt hätte. Seit zwei Wochen wohnte in den unteren Räumen eine Frau, die irgendwie ihre Stimme verloren hatte. Sie war furchtbar heiser, und auch das gute Wasser, das man hier schlabbern konnte, schien ihr nicht zu helfen. Sie war ebenfalls keine freundliche Person, und ein Blick auf ihre Schuhe mit den spitzen Absätzen hatte mich davor gewarnt, allzu sehr in ihre Nähe zu kommen.
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