Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Vorwort
Wir sind fürs Überleben gemacht!
Als am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2004 das Telefon klingelte und meine Schwester am Apparat war, hatte ich eigentlich mit den üblichen Weihnachtswünschen gerechnet. Stattdessen teilte sie mir aufgeregt mit, sie sei in größter Sorge um ihre Tochter, die gerade in Sri Lanka Urlaub machte. Ein schweres Beben im Indischen Ozean hatte einen gewaltigen Tsunami ausgelöst, der über die angrenzenden Länder Tod und Verwüstung gebracht hatte. Wie verheerend das ganze Ausmaß sein sollte, davon hatte an jenem 26. Dezember niemand eine Vorstellung. Ich versuchte, meine Schwester – so gut ich eben konnte – zu beruhigen. Abwarten, keine Panik, wer weiß, ob sie sich zu diesem Zeitpunkt überhaupt an der Küste befunden hatte … Das Undenkbare, Unaussprechliche kam nicht über meine Lippen.
Nach langen Tagen der Ungewissheit, des Hoffens, Bangens und Wartens erhielten wir die schreckliche Gewissheit. Das BKA unterrichtete uns, dass meine Nichte identifiziert worden war. Sie war eines der über 230 000 Todesopfer, die diese Naturkatastrophe gefordert hatte.
Obwohl ich seit Jahrzehnten als Traumapsychologe tätig bin, spezialisiert auf die Betreuung von Katastrophenopfern und deren Angehörigen, hat mich das Schicksal meiner Nichte mit unerwarteter Wucht getroffen. Nicht nur, weil ein Mitglied unserer Familie dabei umgekommen und ich damit in den Kreis der Betroffenen gerückt war. Sondern auch, weil diese Katastrophe all jene Elemente enthielt, die unsere menschlichen Grundüberzeugungen und unser Sicherheitsbedürfnis wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen. Ähnliches weltweites Entsetzen, eine ähnliche Verunsicherung hatten in den letzten Jahren nur die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York oder das Atomunglück von Fukushima ausgelöst. Solche großen Katastrophen brennen sich in das kollektive Gedächtnis ein. Sie verändern Gesellschaften, beeinflussen politische Entscheidungen und haben Auswirkungen auch auf jene, die nicht unmittelbar davon betroffen waren. Denn während wir uns mit dem Schicksal fremder Menschen beschäftigen, denken wir automatisch an eigene schmerzliche oder traumatische Erfahrungen zurück. Wir durchleben die vergangenen Zeiten erneut, verarbeiten sie manchmal sogar dadurch, stellen uns vor, wie die Überlebenden der Katastrophe und deren Angehörige sich fühlen mögen, und fragen uns, wie ein Leben danach überhaupt aussehen könnte. Oft fallen in diesem Zusammenhang Sätze wie: »Ich würde durchdrehen!« oder »Damit würde ich nie klarkommen!«
Tatsächlich aber ist der Mensch in der Lage, in solchen Ausnahmesituationen ungeahnte Kräfte zu entwickeln und psychische wie physische Ressourcen zu nutzen, von deren Existenz er bis dahin keine Vorstellung hatte. Das gilt nicht nur für schwere Katastrophen wie die oben genannten, sondern auch für die persönlichen Schicksalsschläge, die uns allen im Laufe unseres Lebens widerfahren. Das Ende einer Liebe, der Tod eines Angehörigen, die Bedrohung der Existenz durch den Verlust der Arbeit, eine schwere Krankheit. Manche Menschen gehen gestärkt aus solchen Krisen hervor, andere zerbrechen daran. Ich habe in den vergangenen 25 Jahren sowohl Menschen begleitet, die schwere Traumatisierungen und Verluste erfolgreich bewältigt haben, als auch solche, deren Leben durch genau die gleiche Katastrophe vollkommen aus der Bahn geraten ist.
Woran liegt es, dass die Ehefrau eines tödlich verunglückten Kumpels bei einem Grubenunglück auch nach Jahren nicht wieder aus der Trauerphase herauskommt, während eine andere, die ihren Mann genauso geliebt und über dessen Verlust getrauert hat, den Weg zurück ins Leben findet? Was ermöglicht es Menschen, sich aus der erlebten absoluten Hilflosigkeit und aus den Fesseln solcher Lebenskrisen zu befreien? Welche Kräfte, welche Art der Unterstützung, welche persönlichen Einstellungen und Eigenschaften helfen ihnen dabei? Oder anders gefragt: Warum bleiben manche Menschen trotz schwerer Belastungen körperlich und seelisch gesund, während andere zugrunde gehen?
Die Frage, was uns krank macht beziehungsweise gesund hält, ist in unseren als immer komplexer und schnelllebiger empfundenen Zeiten und angesichts der inflationär gestellten Diagnosen Burnout und Depression von großer Bedeutung. Nicht nur die Forschung hat in diesem Bereich enorme Fortschritte gemacht, auch in der Bevölkerung hat ein Umdenken eingesetzt. Während in der
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