Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Nachkriegszeit die tausendfachen Traumatisierungen, welche die Menschen während des Zweiten Weltkriegs erlitten hatten, kaum thematisiert wurden, erlebte ich Ende der achtziger Jahre den Beginn eines Wandels. Auslöser war das Grubenunglück von Borken, bei dem 1988 51 Bergleute tödlich verunglückten. Beim Aufbau eines psychosozialen Betreuungsnetzes für Hinterbliebene, Überlebende, Rettungspersonal, Einsatzkräfte und andere Betroffene leisteten meine Kollegen und ich Pionierarbeit. Der Begriff der »posttraumatischen Belastungsstörung« war damals auch den meisten Fachleuten noch unbekannt; dass ein Feuerwehrmann die Bergung von Toten aufgrund seiner Berufsausbildung einfach »wegstecken« könne, war die allgemeine Sichtweise. Die Erfahrungen, die wir in den Bereichen der Krisenintervention und im Rahmen der langfristigen Betreuung von Betroffenen sammelten, waren die ersten in Deutschland, die auch systematisch ausgewertet wurden.
Mich haben schon damals besonders die Fragen interessiert, wie Menschen es schaffen, aus der Phase des Leidens herauszukommen, ein Trauma zu überwinden. Und warum manchen dies besser zu gelingen scheint als anderen. Hier musste ein wichtiger Schlüssel zu den Überlebenskräften des Menschen liegen. Heute gibt es einen Begriff, unter den diese Überlegungen subsumiert werden: Resilienz.
In den Jahren nach Borken setzte ich mich immer wieder mit einem Bericht von Professor van der Kolk auseinander, der bei seinen Experimenten auf ein interessantes Phänomen gestoßen war: Nämlich dass Mäuse, die in ihrem Käfig Stromschläge erhalten hatten, also »traumatisiert« waren, nicht in der Lage waren, den Ort der Marter zu verlassen, nachdem die Stromschläge aufgehört hatten und die Türen des Käfigs geöffnet worden waren. Stattdessen verharrten sie reglos, schienen regelrecht gelähmt. Wenn man diese Beobachtung auf den Menschen übertrug, lag der Schluss nahe, dass es traumatisierten (also gewissermaßen durch eine Situation psychisch gelähmten) Menschen nicht allein helfen würde, ihnen in psychotherapeutischen Gesprächen die Möglichkeit zu geben, darüber zu berichten, wie sie sich während ihrer ganz persönlichen »Stromschläge« gefühlt haben. Dieses »Tür-Öffnen« allein schien nicht auszureichen, es mussten also neue Konzepte in der therapeutischen Begleitung dieser Menschen entwickelt werden, mit deren Hilfe sie wirklich aus ihrem Gefängnis herausgeholt werden könnten.
In eine ähnliche Richtung entwickelte sich die Resilienzforschung, in der die Fähigkeit von Individuen oder Systemen untersucht wird, erfolgreich mit belastenden Situationen umzugehen. Die Erkenntnisse der Resilienzforschung sind nicht nur von großer Bedeutung für den Umgang mit schwer traumatisierten Menschen, sondern letztlich für jeden von uns und unseren Umgang mit alltäglichen Krisen. Denn es geht dabei keineswegs nur um bestimmte genetisch festgelegte Merkmale, die besonders widerstandsfähige Menschen auszeichnen, sondern auch um erlernbare Strategien, die uns helfen können, solche Krisensituationen zu bewältigen.
Inzwischen gibt es unter Experten einen breiten Konsens darüber, wie Menschen aktiviert werden können, um aus ihrem »Stromschlag-Gefängnis«, ihrem Trauma, herauszukommen. Auf jeden Einzelnen von uns übertragen heißt das: Es gibt auch ein Wissen darüber, welche Maßnahmen man präventiv ergreifen kann, wie man den Blick auf sich selbst schulen kann, um in dieses Gefängnis gar nicht erst hineinzugeraten. Und genau das ist einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Nach 25 Jahren der Betreuung von Katastrophenopfern und der psychotherapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen habe ich festgestellt, dass uns die Erkenntnisse der Menschen, die ein Trauma überwunden haben, wichtige Hinweise für die Bewältigung unserer Alltagsprobleme und Lebensaufgaben geben können. Es scheint tatsächlich an der Zeit, diese Hilfestellung anzubieten, da ich bei vielen meiner Mitmenschen sowohl im beruflichen wie auch im privaten Bereich eine sich immer stärker ausbreitende Verunsicherung feststelle, eine regelrechte Überforderung. Bei den einen liegt die latente oder auch manifeste Überbelastung an den Verhältnissen, an zu hoher Stressbelastung, Zukunftsängsten und der Unfähigkeit, das, was man hat, wertzuschätzen. Depressionen und Ängste haben immens zugenommen, Belastungen werden schneller als noch vor einigen Jahren als unzumutbar erlebt. Auch
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