Übersinnlich
dem sie nichts mehr wusste, an den sie sich nicht erinnerte. Tränen rannen über ihre Wangen, die großen hübschen Augen waren in Furcht geweitet. Dabei war er nicht ihr Feind. Ganz im Gegenteil.
So hatte er das nicht gewollt. Er wollte sie beruhigen, ihr alles erklären, seinetwegen auch diesen Steffen verschonen, aber als er auf sie zuging, wich sie zurück, hob abwehrend die Hände. Das ertrug er nicht. Er wollte sie spüren, in seine Arme reißen, sie küssen, weil er sich nach diesen Küssen so unendlich lange sehnte. Aber Isabella verstand nicht. Wie hätte sie auch? Sie hatte keine Erinnerung an damals.
Vasterian merkte nicht, wie Steffen sich aufrappelte. Er bemerkte ihn erst wieder, als er sich schützend, offenbar bereit, sein Leben zu geben, vor Isabella stellte. Sein Mut war beeindruckend, obwohl der Junge nicht ahnte, mit wem er sich anlegte.
Resignierend sah er, wie sie sich aneinander festhielten, wie ihre Finger sich ineinander verhakten. Er konnte nichts ausrichten, er konnte nichts gegen Isabellas Gefühle, die nicht ihm galten, tun. Sie hatte keine Erinnerung an jene leidenschaftlichen Nächte in dem fernen Reich, das sie einst Heimat genannt hatten. Sie wusste nichts von den wilden Küssen, davon, wie sich ihre Körper miteinander verbunden hatten.
Vasterian tauchte für einen Augenblick zu tief in diese alten Erinnerungen, und als er wieder aufblickte, sah er Isabella und Steffen in der Dunkelheit verschwinden. Ihre raschen Schritten hallten durch die Nacht und er blieb stehen, sah ihnen nach, bis die Schritte verklungen waren. Er fühlte nichts außer Schmerz. Und doch war in ihm das Wissen, dass es richtig gewesen war, sie gehen zu lassen. Eigentlich wollte er nur eines, dass sie glücklich war. Und wenn sie sich für ein Leben unter Menschen mit einem menschlichen Partner an ihrer Seite entschied, dann sollte es so sein.
Seit jener Nacht war Vasterian ein anderer. Nach London zurückgekehrt, wo sein Hauptwohnsitz lag, hatte er seine Geschäfte wieder übernommen. Antoine war ein guter Stellvertreter gewesen, doch nun wollten die Vampire wissen, wie es weiterging. Würde Vasterian den Waffenstillstand auflösen? Würde es wieder Krieg geben? Aber wenn ja, wofür sollte er kämpfen?
Er saß hinter seinem riesigen Schreibtisch, ging einige Akten durch, als es an der riesigen Eichentür klopfte.
„Ja?“, rief er und sein Diener trat ein.
„Eine junge Dame möchte Sie sprechen, Sir.“
Vasterian gab über ein Mikrophon etwas in den Computer ein, dann widmete er sich dem Angestellten.
„Eine Dame?“ Das überraschte ihn. Selten bekam er hier oben im 13. Stock Damenbesuch.
„Ja, Sir. Ihr Name ist Isabella de Sagrais.“
Kaum war dieser Name über die Lippen des Mannes im vornehmen Anzug gekommen, setzte sein Herzschlag wieder ein und zwar so gewaltig, dass er ihn in seinen Sitz zurückschleuderte. Vasterians Hände, die eilig nach einer Aufgabe suchten, fingen unwillkürlich an zu zittern, während er ein paar Papiere ordnete.
„Soll ich sie hereinlassen, Sir?“
„Ja! Ich meine … tun Sie das, Albert.“
Wolfskriegerin,
ISBN: 978-3-941547-06-3
Er räusperte sich eilig, in der Hoffnung, seine Stimme würde nicht versagen. Da betrat sie auch schon sein Büro, blickte sich ehrfürchtig um und blieb vor seinem Schreibtisch stehen. Sie musterten einander sehr ausführlich. Isabella war nun fast 26 Jahre alt und in seinen Augen schien sie noch schöner. Ihre Haare waren hochgesteckt, sie trug ein luftiges Kleid, denn die Nächte waren um diese Jahreszeit sehr warm. Ihr Blick ging ihm durch und durch und die Art, wie sie ihn ansah, wie sie den Kopf leicht zur Seite neigte, kam ihm unglaublich vertraut vor, denn auf diese Art hatte ihn seine Königin oft angesehen.
„Wie haben Sie mich gefunden?“, fragte er und glücklicherweise klang seine Stimme fest.
„Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Ich hatte … eine seltsame Erinnerung. Deshalb bin ich hier.“
Er bot ihr an, sich zu setzen, doch sie lehnte ab und sah ihn noch immer forschend an, als suchte sie nach etwas in seinem Gesicht oder in seinen Augen. Vielleicht nach etwas Vertrautem.
„Sie kamen darin vor. Ich weiß, Sie haben mich in der Vergangenheit oft gerettet, vor den Wassergeistern, von deren Existenz ich nicht mal wusste, vor den Auswirkungen des Vollmonds auf meinen Körper, und Sie haben Steffen verschont. Aber diese Erinnerung …“ Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, sie fortzuwischen, doch
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