Übersinnlich
Freischwimmer gemacht, was sollte also passieren, falls sie unerwartet das Gleichgewicht verlor? Nachdem sie auch ihre Hosenbeine hochgekrempelt hatte, blickte sie sich suchend nach einem langen Stock um.
„Lass uns lieber zu deinem Vater gehen, er hat vielleicht einen zweiten Ball.“
Da erblickte sie schon einen geeigneten Ast im Gras. Sie hob ihn auf, ignorierte Annes Einwände, und stieg knietief ins Wasser. Ungewollt hatte sie ein paar Wellen verursacht, die nun den Federball weiter forttrieben. Sie streckte den Arm aus und versuchte, ihn mit dem langen Ast in ihre Richtung zu bewegen, doch der Versuch misslang und der Federball glitt immer weiter von ihr weg.
„Isabella, bitte lass das doch“, flehte Anne.
„Ich hab ihn doch gleich.“
Vorsichtig machte sie einen Schritt nach vorn, tastete sich mit den nackten Füßen über den körnigen Sandboden, als ihre Zehen plötzlich ins Leere traten, weil der Untergrund steil nach unten ging. Mit einem Schrei landete sie im Wasser. Wellen schwappten über ihren Kopf hinweg, drückten sie nach unten. Rasch versuchte sie, an die Oberfläche zu gelangen, doch irgendetwas im Wasser schien sie festzuhalten. Panisch blickte sie um sich, während die ersten Luftblasen aus ihrem Mund nach oben sprudelten. Sie konnte in der Dunkelheit nichts erkennen, sie spürte nur, wie die Luft immer knapper und ihr Körper schwächer wurde. Warum tat Anne nichts? Warum holte sie keine Hilfe? Sie strampelte wild mit den Beinen und für einen Moment gelang es ihr, sich loszureißen. Doch sie wurde erneut gepackt und in die Tiefe gerissen. Dieses Mal glaubte sie, zwei Hände zu sehen, die sie an den Beinen festhielten. Sie schienen flüssig, als wären sie aus Wasser. Isabella wollte schreien, presste aber stattdessen die Lippen fest zusammen, um das letzte bisschen Luft zu behalten. Ein letztes Mal stieß sie sich vom Grund ab, in der Hoffnung, die Oberfläche zu erreichen, als plötzlich jemand von oben nach ihr griff. Sie wurde hochgerissen. Wasser perlte an ihr hinunter. Sie bekam trotzdem keine Luft. Dann wurde es dunkel um sie.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ein fremdes Gesicht über sich. Im nächsten Moment hörte sie Anne.
„Schnell, Herr Rem, schnell! Dort vorn ist sie versunken!“
Isabella bewegte den Kopf zur Seite und sah Anne und ihren Papa, die am Ufer entlang zu ihr stürmten. Ein mächtiger Hustenanfall schüttelte sie und Wasser kam aus ihrem Mund. Sofort kniete sich Papa neben sie, untersuchte sie besorgt. Aber sie erholte sich schnell.
„Wo ist er hin?“
„Wer Liebling, wer?“
„Der Mann, der mich gerettet hat.“
Aber es war niemand außer ihnen hier.
Isabella war sechszehn Jahre alt, als sie begriff, dass mit ihr und ihrer Familie etwas nicht stimmte, dass sie anders waren und ihr immer wieder Dinge passierten, die sie sich nicht erklären konnte. Zumindest nicht mit gesundem Menschenverstand. Manchmal glaubte sie, beobachtet zu werden, obwohl niemand in ihrer Nähe war. Und noch etwas war merkwürdig. Wann immer der Vollmond schien, verspürte sie eine seltsame Hitze, tief in ihrem Inneren, die heiß wie Lava durch ihre Adern rauschte. Mama zog in solchen Nächten die Vorhänge zu und brachte ihr ein Kühlkissen ins Bett, weil es nicht selten der Fall war, dass sie auch fieberte. Isabella schob diese Anwandlungen auf die Pubertät und das Chaos, das eben diese in ihrem Körper anrichtete, manchmal aber, nämlich dann, wenn sich ihre Eltern unbeobachtet glaubten und sich so merkwürdige Blicke zuwarfen, hatte sie das Gefühl, Mama und Papa wüssten mehr als sie.
Zwei Jahre später trafen sich Isabella und Anne am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, um in die Cocktailbar Blue Ocean zu gehen. Es war Samhain und auch ein paar Jungs aus ihrer Oberschule wollten in der neu eröffneten Bar den Abend verbringen. Vor lauter Aufregung, denn Steffen aus der Parallelklasse war ebenfalls dabei, hatte Isabella nicht auf den Mondlauf geachtet, und noch ehe sie die Bar erreichten, musste sie mitten auf der Straße innehalten, weil ein schrecklicher Schmerz durch ihre Brust fuhr und sie in die Knie zwang. Zwar hatte sie zu Vollmond schon öfter Schmerzen erlitten, doch nie waren sie so stark gewesen wie in dieser Nacht. Sie bekam kaum Luft, geriet in Panik, glaubte sogar, einen Herzanfall zu erleiden.
„Oh Gott, Isabella, was ist denn los?“, rief Anne voller Entsetzen. Aber Isabella hatte genauso wenig Ahnung wie ihre Freundin.
„Ich hole rasch Hilfe,
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