Uhrwerk Venedig (German Edition)
Goliath-Käfer schwirrte gerade an den Richtern vorbei und entfachte auch dort Begeisterung. Doch dann landete er anstelle von Pietros Handfläche auf dem Schreibtisch der Pavoni’schen Konstruktion.
Filippo Pavonis Zorn war deutlich zu hören, als er die Menge dazu aufforderte, genau hinzusehen.
Der Metallmensch hob die Hand. Arglos krabbelte Pietros Goliath-Käfer auf der Platte. Mit eingeklappten Flügeln wirkte er so echt wie ein lebendes Wesen. Die Fühler wippten im Takt der Vorwärtsbewegung. Pietro bemerkte eine Veränderung in der Menge und drehte sich um. Dann schnellte die Hand herab. Der Käfer knirschte leise. Die Menge jaulte. Pavoni lachte hämisch. Nachdem der Metallarm in seine vorige Stellung zurückgekehrt war, wischte er den Käfer von seinem Schreibtisch. Mit Goliath starb ein kostbarer Teil in Pietros Herzen.
Wie betäubt ging Pietro zu seinem Käfer, dann knickten seine Beine ein. Giulia stürzte zu ihm. Ihre Umarmung spürte er kaum. Auch hörte er nicht mehr, wie Grossi seinen ehemaligen Schüler zornentbrannt als eiskalten Nichtsnutz beschimpfte, wie er seine Maschine als Menschenersatz verurteilte und er Pietro als lebendes Beispiel für die Notwendigkeit der Förderung von Fähigkeiten nannte. Lesen und Schreiben konnte schließlich jeder lernen, wenn er nur wollte. Er vernahm nicht mehr die Disqualifikation von Pavoni und auch nicht seinen Sieg. Goliath war tot.
Drei Jahre später kam ein kleiner Junge zu seiner Mutter gelaufen. Er hielt ein kleines, metallenes Spielzeug in den Händen. »Mama, spielen wir mit Papa?«
»Nein Schatz, dein Vater arbeitet.« Giulia Marzo nahm ihren Sohn auf den Schoß. »Er ist ein großer Erfinder, weißt du«, sagte sie stolz. Ihr Lächeln ähnelte jenem, das sie Pietro geschenkt hatte, als er ihr den Grashüpfer damals gezeigt hatte.
Die Tür wurde geöffnet. Pietro trat herein. »Für unseren Sohn habe ich immer Zeit«, sagte er. »Was möchtest du spielen, Guido?«
Pietro verfügte nun über eine eigene Werkstatt, materiellen Wohlstand und hatte zwei Lehrlinge in Ausbildung. Alles, was er sich einst erträumte war wahr geworden. Ja, selbst eine Familie, die er liebte, gehörte dazu. Er durfte sich nicht beklagen. Bisweilen, in schlaflosen Nächten, befiel ihn jedoch der Wunsch, all seinen Besitz aufzugeben, könnte er nur dieses eine Stück seines Herzens wiedergewinnen, das Pavoni ihm genommen hatte. Mit seinem feinen Gespür kam in jenen Augenblicken sein Sohn und nahm ihn an der Hand.
Dirk Ganser
DAS TOR
Mailand, Anno Domini 1498, »Ein Blick auf die Sterne«
1
Eine sanfte Brise wehte in der Dämmerung durch den Garten und brachte Blütenduft mit. Eine Ahnung des nahenden Frühlings. Auf der Wiese stand eine Staffelei, hinter der ein misstönendes Brummen erklang. Leonardo da Vinci trat einen Schritt zurück und spähte in den Himmel. In der linken Armbeuge hielt er eine verschmierte Farbpalette, in der rechten Hand mit gezierter Geste einen Pinsel. Der Gelehrte kniff ein Auge zu. Es wurde allmählich dunkel. Zu dunkel um noch …
»Meister Leonardo«, durchbrach eine Stimme die friedliche Stille. Leonardo zuckte zusammen. »Meister Leonardo, ich glaube, ich habe es geschafft!«
Leonardo runzelte die Stirn und drehte sich um. Giacomo Fontanelli kam durch den Garten der Werkstatt gelaufen, als wären sämtliche Dämonen der Hölle hinter ihm her.
»Wahrhaftig.« Leonardo schüttelte den Kopf. »Du hast es geschafft, mich zu erschrecken und meine Konzentration nachhaltig zu stören.«
Schwer atmend kam der junge Mann vor seinem Meister zum Stehen. Er beugte sich vor und stützte seine Hände auf den Knien ab in dem Versuch, wieder zu Atem zu kommen.
»Meister«, keuchte er. »Ihr hattet doch einst geplant, eine Macchina zu …« Leonardo legte die Stirn in Falten und Giacomo stockte. Dann räusperte der junge Mann sich und dachte daran, dass sein Meister bei seinen Erfindungen auf die lateinische Bezeichnung bestand. »Entschuldigt, Meister. Ihr wolltet doch eine Machina erbauen, mit der man den Mond und die Sterne besser beobachten könnte.«
Leonardo war verwirrt. Hatte er das wirklich? Ja, möglich wäre es. Sein Blick glitt wie von selbst zum Abendhimmel, wo die Natur ihr prächtigstes Farbschauspiel zeigte, bevor sie den Vorhang für das nächtliche Treiben von Mond und Sternen freigeben würde. Es gab so vieles, was ihm durch den Kopf ging und seine Aufmerksamkeit erforderte. Etliche Gedanken, die
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