Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
auf dem Flur, nur wesentlich intensiver.
Die Einrichtung bestand lediglich aus einem einzelnen Hocker. Anstelle eines Fensters gab es ein silbernes Rechteck.
Jason ging hin und entdeckte darin sein Ebenbild. Es war ein Spiegel. Er schaute nach oben zur Decke und stellte fest, dass sie voller Löcher war. Löcher von unterschiedlicher Größe, die mit Metall eingefasst waren. »Was soll ich hier?«, fragte er sich.
Vielleicht war er in einem dieser Klöster gelandet, von denen er öfters gelesen hatte. In ihnen blieb man viele Jahre lang, lernte meditieren und erlangte dadurch allmählich Weisheit.
Aber Jason wollte nicht meditieren. Und er hatte nicht jahrelang Zeit.
Ich bin Jason Covenant, der Bruder von Julia Covenant und der Freund von Rick Banner. Ich bin aus Kilmore Cove hierhergekommen, um die Geheimnisse um Ulysses Moore und die Freunde des Großen Sommers zu ergründen. Ja, er konnte sich noch an all das erinnern.
Er setzte sich auf den Hocker und stellte die Füße ordentlich nebeneinander auf den Fußboden. In dem silbernen Rechteck sah er wieder sein Spiegelbild.
»Soll ich dir die Fragen stellen?«, fragte er seinen silbrig glänzenden Doppelgänger leise.
Auf einmal kam es ihm vor, als würde aus den Augen seines Spiegelbilds ein eigenartiges Licht leuchten. So, als ob die Antworten, nach denen er suchte, bereits dort wären.
Er sah zu den Löchern an der Decke hinauf. Sie kamen ihm wie Ohren vor.
Er unterdrückte den Drang, augenblicklich aufzustehen und davonzulaufen.
Er war bis hierher gekommen. Einen Versuch war es wert.
»Ich heiße Jason Covenant«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »Und ich bin hergekommen, weil ich Antworten suche. Meine erste Frage ist folgende: Wer sind die Erbauer der Türen?«
Lange starrte Jason sein Bild in dem silbernen Rechteck an. Seine Augen, sein zerzaustes, vom Wasserdampf feuchtes Haar. Eine ganze Zeit lang geschah nichts weiter Bemerkenswertes – außer, dass der Fußboden wärmer und der Dampf dichter wurde –, als hätte sich das Zimmer in ein türkisches Bad verwandelt.
Jason schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder.
»Ich bin …«, wollte er sich gerade leise vorsagen, hörte aber sofort wieder damit auf.
Denn von der Decke drangen die ersten Wörter zu ihm herunter. Wie die Tropfen eines Sommerregens fielen sie zuerst einzeln und in großen Abständen und dann immer dichter und schneller auf ihn herab. Klare, deutliche Worte und solche, deren Sinn erst ergründet werden musste, Worte, die kalt, und solche, die warm klangen.
Jason war, als könne er sie nicht nur hören, sondern auch sehen. Als würden sie vor seinen Augen Gestalt annehmen.
Sie stürzten immer weiter auf ihn herab, liefen ihm den Rücken hinunter, wirbelten herum, verbanden sich zu Sätzen.
Jason schloss die Augen und stellte sich vor, er würde sich zwischen den Worten bewegen, die ihrerseits um ihn herumtanzten. Er konnte sie auswählen und sortieren.
Und aus ihnen seine Antworten zusammenbauen.
»Die Erbauer der Türen sind ein sehr altes Volk …«, kam es über Jasons Lippen. »Ein sehr altes Volk, das nach und nach ausgestorben ist … bis es ganz und gar verschwand.«
Wie einfach das war! Die Antworten waren hier bei ihm, sie waren geradezu greifbar. Aber wer sprach sie aus? Und wie? Und warum? Jason stellte sich vor, dass es Hunderte von Zimmern wie dieses gab, in denen andere Menschen ebenso wie er ihre Fragen stellten. Und die Antworten darauf durch die Ohren und Münder des Orakelariums erhielten. Ein großes, dichtes Netz aus Fragen und Antworten.
Dann stimmte es also. Mallory hatte die Wahrheit gesagt.
Und auch Dr. Bowen, ohne es zu wissen.
Aber auch, wenn das wahr gewesen war: Sobald er hier herausging, würde er alles wieder vergessen. Die Fragen ebenso wie die Antworten. Er würde nicht mehr das Gefühl haben, sie zu brauchen.
Er dachte an Nestor, der sich keine Fragen mehr stellte. Und an Leonard, der dagegen rastlos herumreiste, um die Wahrheit herauszufinden. Bestand Weisheit darin, das Wissen für sich zu behalten und es nicht mit anderen zu teilen? Bedeutete Weisheit, das Wissen zu hüten? Oder im Gegenteil, es zu verbreiten? Jason war sich nicht sicher, ob es auch auf diese Frage eine Antwort gab.
Was die anderen Fragen betraf, so wusste er, was er zu tun hatte. Er hatte bis zum letzten Moment befürchtet, dass sie es ihm unmöglich machen würden und dass sich sein Plan einfach nur als dumme Idee entpuppen würde. Aber das war nicht
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