Fischland Mord - Küsten-Krimi
1
Kassandras Worte erstarben ungesagt auf ihren Lippen.
Der Mann war nass. Nicht klitschnass, obwohl er das zweifellos
einige Stunden zuvor gewesen sein dürfte. Sein Anzug triefte nicht mehr, in
seinen weißen Haaren klebten fast getrockneter Schlamm und Reste eines
Schilfblattes. Seine Hände waren ebenfalls schlammbeschmutzt, von seinen
Schuhen gar nicht zu reden.
Kassandra zwang sich, ihren Blick auf sein Gesicht zu richten. Er
starrte sie an. Tot. Natürlich war er tot. Warum sonst sollte ein komplett
bekleideter Mann durchnässt, dreckig und mucksmäuschenstill mit geöffneten
Augen auf einem Bett liegen? Sicher – dies war sein Zimmer, aber der Mann sah
aus, als wäre er in den Bodden gefallen. Da trocknete man sich doch ab und zog
sich was anderes an, bevor man schlafen ging.
Vielleicht war er nicht mehr dazu gekommen, sagte eine Stimme in
Kassandras Kopf. Vielleicht hatte er sich nicht mal selbst aufs Bett gelegt.
Was bedeutete das? Es bedeutete, dass jemand letzte Nacht im Haus
gewesen war, ein Fremder, ohne dass sie es bemerkt hatte. Und es bedeutete womöglich
noch etwas weitaus Erschreckenderes. Das Wort drängte sich
ungewollt in Kassandras Bewusstsein, ein Wort, das überhaupt
nicht in diese idyllische Gegend passte: Mord.
Sehr behutsam schloss Kassandra die Zimmertür und lehnte sich von außen
dagegen. Sie atmete mehrmals ein und aus, versuchte, ruhig zu werden. Es gelang
ihr nicht. Ihre Hände zitterten, ihre Knie drohten nachzugeben, als sie einen
Fuß vor den anderen setzte, bis sie in der Küche ankam, wo das halb
vorbereitete Frühstück, das Herr Thun nun nie mehr zu sich nehmen würde, darauf
wartete, durch ein weich gekochtes Ei komplettiert zu werden.
Fahrig griff sie nach ihrem Handy und tippte mit fliegenden Fingern
die 110 ein.
Sie bekam den Namen des Beamten nicht mit, der sich am anderen Ende
meldete, aber sie schaffte es, ihm die Situation einigermaßen gefasst zu
erklären.
»Ein Toter«, wiederholte er und klang beim zweiten Satz etwas
ungläubig. »Und der ist nass.«
»Ja, einer meiner Gäste, hab ich doch schon gesagt. Er liegt im
Bett. Bitte schicken Sie jemanden vorbei. Schnell!«
»Nun beruhigen Sie sich erst mal«, sagte er. Doch das bewirkte
seltsamerweise das Gegenteil.
»Ich will mich nicht beruhigen!« Kassandra kam ihre eigene Stimme
unangemessen laut vor angesichts der Tatsache, dass quasi nebenan ein Toter
lag. »Finden Sie mal in Ihrem eigenen Haus eine Leiche, Sie wären auch nicht
ruhig.«
Endlich versprach ihr der Polizist, einen Streifenwagen zu schicken.
Kassandra ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen, das Telefon in der Hand.
Dabei hatte der Tag so vollkommen normal begonnen.
Kassandra hatte die Fensterläden aufgestoßen und die Straße hinauf-
und hinuntergesehen. Kapitänshäuser mit hübschen Vorgärten, bunten Türen und
Fenstern und kleine ältere Villen standen dort, gesäumt von Lindenbäumen. Es
herrschte eine himmlische Ruhe, und daran würde sich im Verlauf des Tages auch
nicht viel ändern. Selbst jetzt, im Sommer, kamen nur gelegentlich
Spaziergänger in die Lindenstraße – und natürlich Feriengäste, nicht zuletzt
ihre eigenen, die Gäste ihrer Pension »Woll tau seihn«, die sie vor zwei
Monaten eröffnet hatte. Mit »Woll tau seihn« wurden in Wustrow auf dem
Fischland in früheren Zeiten die seefahrenden Heimkehrer gegrüßt. Und so wollte
Kassandra ihre Gäste empfangen: mit einem Willkommensgruß.
Drüben im Nachbarhaus zu ihrer Rechten öffnete sich die Tür, ein
hagerer Mittsechziger mit raspelkurzem rotblondem Bürstenhaarschnitt und
verkniffener Miene trat hinaus. »Morgen, Herr Jung!«, rief sie ihm zu.
Heinz Jung ignorierte sie, nur einem Zucken seines Kopfes entnahm
sie, dass er sie überhaupt gehört hatte.
»Dann eben nicht«, murmelte Kassandra. Schon als sie vor einem Jahr
stolze Besitzerin des sanierungsbedürftigen Kapitänshauses geworden war, hatte
Jung sie nicht gerade enthusiastisch willkommen geheißen. Einige Umbauten auf
dem Grundstück hatten der Zustimmung der Gemeindevertretung bedurft, der Heinz
Jung angehörte. Über Umwege hatte sie im Nachhinein erfahren, dass alle ihre
Anträge von ihm torpediert worden waren. Letztlich hatte die Mehrheit aber doch
gegen seine Stimme positiv entschieden. Kassandra hielt es für
unwahrscheinlich, dass Jung etwas über sie und ihre Vergangenheit wusste oder
gar ahnte, welche Rolle das für Wustrow spielte. Das konnte also schlecht der
Grund für sein Verhalten
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