Ulysses Moore – Die steinernen Wächter
Zimmer für den Haarschnitt suchten.
Nestor kratzte sich wieder den Bart, hinkte, so leise er konnte, zu der Luke, durch die man auf den Speicher gelangte, zog die Treppe herunter und kletterte hinauf.
Oben holte er die Leiter ein und schloss die Luke. In Penelopes Atelier ging er zur Schneiderpuppe mit der Jacke und der Kapitänsmütze und legte die Hand kurz auf den Griff ihres Degens. Er seufzte und hinkte dann zum hinteren Ende des Raumes.
Klack machte ein weiterer Mechanismus.
Eine Minute später war Nestor im Garten.
Der Ausdruck auf Oblivia Newtons Gesicht ließ sich mit dem Wort »triumphierend« sehr treffend beschreiben. Geschickt hatte sie sich ins Haus geschlichen, während Gwendaline und Manfred Mrs Covenant ablenkten. Die Kinder und dieser furchtbare Gärtner schienen zum Glück gar nicht da zu sein.
Endlich war es ihr gelungen, in die Villa Argo einzudringen, in das Haus, das sie um jeden Preis hatte kaufen wollen, das Haus, das sie bis zum heutigen Tag nicht hatte betreten dürfen.
»Ich bin drin!«, flüsterte sie sich zu, als sie vor dem großen Wandspiegel im Wohnzimmer der Villa stand.
Mit einem Blick hatte sie festgestellt, dass die Einrichtung der Villa Argo furchtbar altmodisch und überladen war. Jedoch gleichzeitig auch furchtbar aufregend.
Oblivia fuhr mit der Hand über die Rückenlehne eines kleinen, mit gelber Seide bezogenen Sofas und über die Rundungen einer chinesischen Vase. Dann ging sie auf Zehenspitzen in Richtung Küche und spähte kurz hinein. Die Hausherrin und Gwendaline hatten sie zum provisorischen Frisiersalon umfunktioniert und plauderten nun angeregt, während die Friseurin mit der Arbeit begann.
Oblivia versteckte sich hinter der Tür und versuchte Manfreds Blick aufzufangen. Beinahe tat er ihr leid: Ihr cooler Chauffeur, der ehemalige Gangster, hatte nun Shampooflocken an den Armen und auf der Sonnenbrille. Auch wenn er ein bisschen ungeschickt erschien, machte er sich als Friseurgeselle doch ganz gut. Gerade hielt er Mrs Covenants Kopf behutsam über eine blaue Plastikwanne, in der er sie unter anderen Umständen wohl am liebsten ertränkt hätte.
Gwendaline, die ihrer Kundin die Haare wusch, unterhielt sie dabei mit amüsanten kleinen Geschichten aus Kilmore Cove und Umgebung, während sie sich gleichzeitig aufmerksam umsah. Ihr entging vermutlich so leicht nichts.
Als er Oblivia bemerkte, ließ Manfred Mrs Covenants Kopf etwas ungeschickt los, murmelte irgendetwas Unverständliches und verließ die Küche. Hinter der Tür streichelte ihm Oblivia einmal kurz das Gesicht und packte ihn dann am Bart. »Manfred, mein Schatz ... mach dir keine Sorgen wegen diesem Gärtner. Er scheint uns wirklich nicht bemerkt zu haben.«
Manfred wirkte wenig überzeugt, nickte aber trotzdem. Er tat, als merke er nicht, wie sich Oblivias Nägel in seine Haut bohrten, und rückte seine Baseballkappe zurecht. »Das ist gut.«
»Ich suche jetzt mal nach der Tür«, entschied seine Chefin.
»Ich helfe noch beim Färben und komme dann nach«, raunte der Chauffeur ihr zu und schickte sich an, in die Küche zurückzukehren.
»Kaum zu glauben!«, lachte Oblivia, die ungewöhnlich gut gelaunt wirkte. »Einen Tag lang lasse ich dich alleine und schon hast du eine neue Chefin.«
Manfred schien das überhaupt nicht lustig zu finden. »Dauert nicht lange«, murmelte er.
Oblivia nickte. »Mach nur, Schätzchen. Hier muss irgendwo die Bibliothek sein. Ich fange da drüben an.«
Oblivia überließ Manfred seinen neuen Aufgaben und durchsuchte das Erdgeschoss. Dabei vergewisserte sie sich, dass die Türen zum Garten verschlossen waren. Sie hatte keine Lust, bei ihrer Suche gestört zu werden.
Den Kindern jedoch wäre sie nur zu gerne über den Weg gelaufen. Die reizenden kleinen Bengel, dachte sie, haben sicherlich die Schlüssel der Tür zur Zeit bei sich. Der richtigen Tür zur Zeit, der ältesten, wie Peter Dedalus ihr erklärt hatte.
Weil sie die Bibliothek unten nicht finden konnte, beschloss Oblivia im ersten Stock weiterzusuchen.
Ach, da sind ja alle Herrschaften Moore versammelt!, stellte sie fest, als sie die Treppe hinaufstieg, über der die Familienporträts hingen. All diese selbstsüchtigen Schurken, die die Türen zur Zeit unbedingt für sich behalten wollten!
Oben hatte sie die Bibliothek rasch gefunden. Als sie sich auf allen Seiten von Büchern umgeben sah, bekam sie Beklemmungen. Millionen von Wörtern auf Tausenden von Seiten!
»Wozu soll das ganze Zeug hier nur
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