Ulysses Moore – Die steinernen Wächter
Rotznase!«
»Manfred, sie laufen weg!«
»Er hat mich in die Hand gebissen!«
»Wo bist du?«
»Hier!«
Ein Streichholz wurde angezündet. Dann erschien in dem winzigen Lichtkreis Manfreds Gesicht.
»Ich bin hier«, sagte er.
Um sie herum war alles dunkel.
»Hörst du sie?«, fragte Oblivia.
»Ja. Sie gehen nach unten.«
»Aber welchen Gang haben sie genommen?«
Das Streichholz erlosch. Manfred zündete ein zweites an. Er hörte, wie sich die Schritte der drei entfernten, doch es kam ihm vor, als liefen sie in mindestens zwei verschiedene Richtungen davon.
»Den dort drüben, glaube ich. Aber ich bin mir nicht sicher.« Er lauschte angestrengt. »Oder den da.«
»Entscheide dich!«
»Wie ging noch mal der Reim?«, fragte Manfred. »Zwei in den Tod, einer nach unten?«
»Manfred!«, herrschte Oblivia ihn an. »Nun tu doch etwas!«
»Rick! Wo bist du? Rick!«, rief Julia so leise wie möglich. Sie und Jason hielten sich an den Händen und eilten den Gang hinunter, der zur
Metis
führte.
»Er wird irgendwo vor uns sein«, antwortete Jason. »Komm, lauf ein bisschen schneller. Wir müssen uns beeilen.«
Julia fiel es schon schwer genug, das Tempo zu halten. »Vorsicht, da vorne kommt das Loch.«
»Ich weiß«, erwiderte Jason. »Es sind ja noch die Glühwürmchen da.«
Tatsächlich war es im Gang nicht ganz dunkel: Durch das Loch am Boden drang ein schwacher Schein, der wohl von den Glühwürmchen in der Höhle kam.
Julia drehte sich um. »Ich höre sie nicht mehr. Und Rick höre ich auch nicht.«
»Los, komm schon!«
Sie stiegen über das Loch hinweg und liefen weiter.
»Wie sind sie denn bloß ins Haus gekommen?«, wunderte sich Julia.
»Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.«
Sie erreichten den Raum mit der Rutsche und lauschten wieder.
»Hinter uns ist niemand mehr.«
»Dann muss Rick schon unten sein.«
»Aber er hätte doch auf uns gewartet!«
Jason sah seine Schwester an. Dann schaute er zur Rutsche hinüber. »Lass uns runterrutschen.«
»Ohne Rick?«
»Julia, wir müssen weiter. Wir müssen sie um jeden Preis abhängen.«
Sie setzten sich nacheinander auf die Rutsche und glitten hinunter. Unten angekommen suchten sie sofort im Sand nach Ricks Spuren, konnten aber nichts finden.
Unzählige Glühwürmchen flogen in der großen Höhle herum und ihr Licht spiegelte sich auf der kleinen Wasserfläche.
Das Schiff war wie immer am Holzsteg vertäut. Der Bug, der an den eines Wikingerschiffes erinnerte, zeigte zum gegenüberliegenden Ende der Höhle.
»Wo ist Rick bloß?«, fragte Julia niedergeschlagen.
Jason lief auf die Schiffsbrücke. »Ich weiß es nicht!«, rief er. »Hilf mir, das Schiff vorzubereiten!«
»Zwei von vieren führen in den Tod und der mit dem Motto bringt dich nach unten ...«,
wiederholte Rick, der sich den Gang entlangtastete.
»Zwei von vieren führen in den Tod. Zwei von vieren führen in den Tod.«
Er blieb stehen, weil er ganz außer Atem war. Und wiederholte in Gedanken ständig den Reim. Erst als er sich einigermaßen beruhigt hatte, lauschte er.
Er konnte weder Oblivias und Manfreds Stimmen noch Jasons und Julias Schritte hören. Er hörte gar nichts mehr. Keinerlei Geräusch, nirgends.
Er war allein. Ganz allein in der Dunkelheit.
Und im falschen Gang.
Aber das war seine Entscheidung gewesen. In dem Durcheinander, das auf das Verlöschen des Lichts gefolgt war, hatte Rick bewusst einen der beiden anderen Gänge genommen, einen der beiden, die in den Tod führen sollten. Er hatte gehofft, dass Manfred und Oblivia ihm hinterherlaufen würden, anstatt Julia und Jason zur
Metis
zu folgen. Er wollte seinen Freunden einen Vorsprung verschaffen und vertraute darauf, umkehren zu können, nachdem er nur ein Stück weit in den unbekannten Gang hineingerannt war.
Jetzt aber wusste er nicht mehr, wie weit und um wie viele Kurven er gelaufen war. Er war sich nicht einmal mehr sicher, wo vorne und hinten war. Überall war nur Dunkelheit. Dunkelheit und Stille. Was sollte er bloß tun?
Er beschloss sich auf allen vieren weiterzutasten.
Auf diese Weise gelangte er zu einer Felswand. Er folgte ihr, bis sie endete und er wieder nichts mehr hatte, an dem er sich orientieren konnte.
»In welche Richtung soll ich nur gehen?«, fragte er laut. Als verzerrtes Echo hallten seine Worte ringsherum wider. Offenbar war er in einen unterirdischen Raum gelangt, der breiter und höher war als der Gang. Aber um wie viel? Und wo genau lag er?
Ein verzweifelter Schrei kroch ihm
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