Um Haaresbreite
zugeklebt. Er wußte nicht, daß sein Kopf und sein Gesicht von Blut verschmiert waren. Harvey Shields hatte sich instinktiv zusammengerollt, um sich vor Kälte und Metallsplittern zu schützen, und er war eingeklemmt. Ein beizender Geruch von Elektrizität drang ihm in die Nase, und da, die Schmerzen wurden immer stärker.
Er versuchte, Arme und Beine zu bewegen, aber sie verweigerten ihm den Dienst. Eine seltsame Stille umgab ihn, nur hier und da von dem leisen Geräusch plätschernden Wassers unterbrochen. Er machte einen weiteren Versuch, sich aus seiner Lage zu befreien, atmete tief und strengte jeden Muskel an.
Plötzlich bekam er einen Arm frei, ließ ihn hochschnellen, stöhnte auf, als ein scharfer Metallsplitter ihm in den Unterarm drang. Dieser Schmerz brachte ihn zu vollem Bewußtsein.
Er wischte sich die klebrige Kruste von den Augen und warf einen ersten Blick auf das, was einmal seine Kabine an Bord des nach England fahrenden kanadischen Luxusdampfers gewesen war.
Die große Mahagonikommode war verschwunden, ebenso der Schreibtisch und der Nachttisch. Wo das Längs- und Querschott hätte sein sollen, klaffte ein großes Loch, durch dessen verbogene Ränder man nur den nächtlichen Nebel und das schwarze Wasser des St.-Lawrence-Stroms sah. Es war ihm, als blickte er in bodenlose Leere. Dann gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, nahmen einen weißen Schimmer wahr, und er wußte, daß er nicht allein war.
Fast in Reichweite von ihm lag ein junges Mädchen aus der Kabine nebenan unter den Trümmern; nur der Kopf und eine bleiche Schulter ragten unter der eingestürzten Decke hervor. Ihr gelöstes langes Haar war goldblond. Ihr Kopf hing in einem grotesken Winkel, Blut lief von den Lippen und über das Gesicht und begann, das wallende Haar zu verfärben.
Shields erholte sich von seinem Schock; ein Gefühl von Übelkeit stieg in ihm auf. Bisher war ihm das Gespenst des Todes nicht erschienen, aber jetzt, beim Anblick dieses leblosen Mädchenkörpers, begann er, seine eigene schrumpfende Zukunft zu sehen. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke.
Verzweifelt blickte er sich in den Trümmern nach dem Handkoffer um, den er nie aus den Augen gelassen hatte. Er war fort, verschwunden, verloren. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, als er sich aus seinem Gefängnis freizukämpfen versuchte. Aber die Bemühungen waren fruchtlos; er hatte kein Gefühl unterhalb der Brust, und es wurde ihm klar, daß sein Rückgrat gebrochen war.
Der große Überseedampfer bekam immer mehr Schlagseite und versank im kalten Wasser, das für immer sein Grab sein sollte. Passagiere, einige in Abendkleidern, die meisten in Nachthemden, drängten sich auf den immer schrägeren Decks, bemühten sich, in die wenigen Rettungsboote zu klettern, die man heruntergelassen hatte, oder sprangen in das kalte Wasser, klammerten sich an alles, was schwamm. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis das Schiff, kaum zwei Meilen von der Küste entfernt, völlig in den Fluten versinken würde.
»Martha?«
Shields zuckte zusammen, drehte den Kopf der schwachen Stimme zu, die von außerhalb der zerstörten Trennwand zum inneren Korridor zu kommen schien. Er lauschte gespannt, und dann kam es wieder.
»Martha?«
»Hier«, rief Shields. »Bitte, helfen Sie mir.«
Keine Antwort. Aber er hörte, wie sich jemand durch den Trümmerhaufen bewegte. Bald darauf wurde ein Stück der eingefallenen Decke beiseite geschoben, und ein Gesicht mit grauem Bart blickte hindurch.
»Meine Martha, haben Sie meine Martha gesehen?«
Der Mann hatte einen Schock, und seine Worte klangen hohl und ohne Betonung. Seine Stirn war blutig und zerschrammt, und in seinen Augen stand Verzweiflung.
»Ein junges Mädchen mit blondem Haar?«
»Ja, ja, meine Tochter.«
Shields wies mit dem Arm auf die Leiche des Mädchens. »Es tut mir leid, aber sie lebt nicht mehr.«
Der bärtige Mann grub sich fieberhaft eine größere Öffnung und kroch hindurch. Er gelangte bis zu dem Mädchen, hob den blutigen Kopf an, strich das Haar zurück. Er war benommen und fassungslos. Eine Weile gab er keinen Ton von sich.
»Sie hat nicht gelitten«, versuchte Shields ihn zu trösten.
Der Fremde antwortete nicht.
»Es tut mir leid«, murmelte Shields. Er fühlte, wie sich das Schiff hart nach Steuerbord neigte. Das Wasser stieg rascher, und es blieb ihnen nur noch wenig Zeit. Er mußte den Vater von seinem Kummer abbringen und ihn irgendwie überreden, den Handkoffer zu
Weitere Kostenlose Bücher