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Um Haaresbreite

Um Haaresbreite

Titel: Um Haaresbreite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Cussler
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nach Regen. Er ging zum Autoschuppen, band eine Anzahl Schnüre unter dem Dach los, rollte die Kunstledervorhänge herunter, befestigte sie unten an den Bodenhaken und kehrte zum Bahnhof zurück.
    Hiram Meechum, der Nachttelegrafist der Western Union, saß über ein Schachbrett gebeugt und gab sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin, gegen einen Kollegen über den Draht zu spielen. Die Fensterscheiben klapperten unter den Windstößen, schlugen im Takt zum Stakkato des Telegrafenschlüssels auf dem Tisch vor Meechum. Harding griff nach der Kaffeekanne auf dem Benzinkocher und goß sich eine Tasse ein.
    »Wer gewinnt?«
    Meechum blickte auf. »Ich spiele gegen Standish in Germantown. Ein verdammt zäher Bursche.« Der Schlüssel tanzte, und Meechum bewegte eine seiner Schachfiguren. »Die Dame bedroht mein Pferd«, brummte er. »Es sieht nicht gerade ermutigend aus.«
    Harding zog eine Uhr aus der Westentasche, blickte auf das Zifferblatt, runzelte nachdenklich die Stirn. »Der
Manhattan Limited hat
sich noch nie so verspätet.«
    »Wahrscheinlich hat ihn der Sturm aufgehalten«, sagte Meechum. Er klopfte seinen nächsten Zug über den Draht, legte die Füße auf den Tisch, lehnte sich mit dem Stuhl zurück und wippte, während er die Antwort seines Gegners erwartete.
    Das ganze Bahnhofsgebäude erzitterte, als ein Blitz durch den Nebel zuckte und in einen Baum auf einer Wiese in der Nähe einschlug. Harding nippte von seinem dampfenden Kaffee, warf einen leicht besorgten Blick zur Decke und fragte sich, ob der Blitzableiter auf dem Dach in gutem Zustand war. Das laute Schrillen der Telefonklingel über seinem Rollpult schreckte ihn aus seinen Gedanken auf.
    »Bestimmt eine Meldung über den
Limited«,
sagte Meechum gleichgültig.
    Harding bog den verstellbaren Hebel mit der Sprechmuschel nach oben in Standhöhe und drückte den kleinen runden Hörer an sein Ohr. »Wacketshire«, antwortete er.
    Durch die knisternden, vom Sturm hervorgerufenen Nebengeräusche auf der Linie war die Stimme des Beamten in Albany kaum hörbar. »Die Brücke… können Sie die Brücke sehen?«
    Harding wandte sich dem Ostfenster zu. Sein Blick reichte nicht weiter als bis zum Ende des Bahnsteigs in der Dunkelheit.
    »Kann nichts sehen. Muß auf den nächsten Blitz warten.«
    »Steht sie noch?«
    »Warum sollte sie nicht mehr stehen?« erwiderte Harding gereizt.
    »Eben hat der Kapitän eines Schleppdampfers aus Catskill angerufen und uns die Hölle heißgemacht«, knisterte die Stimme zurück. »Er behauptet, ein Brückenträger sei eingestürzt und habe einen seiner Kähne beschädigt. Wir sind hier alle in großer Panik. Der Bahnhofsvorstand in Columbiaville meldet, daß der
Limited
schon lange überfällig ist.«
    »Sagen Sie ihnen, sie können ganz beruhigt sein. Der Zug ist noch nicht in Wacketshire gewesen.«
    »Sind Sie sicher?«
    Harding schüttelte den Kopf über diese blöde Frage.
    »Verdammt noch mal! Glauben Sie vielleicht, ich wüßte nicht, ob ein Zug durch meinen Bahnhof kommt?«
    »Dann haben wir ja Gott sei Dank noch gerade Zeit.« Die Erleichterung in der Stimme war trotz der starken Nebengeräusche vernehmbar. »Der
Limited
hat neunzig Passagiere an Bord, abgesehen vom Zugpersonal und einem Sonderwagen der Regierung, mit dem irgendein hoher Beamter nach Washington fährt. Stoppen Sie den Zug, und sehen Sie bei der ersten Möglichkeit mal nach, was mit der Brücke los ist.«
    Harding bestätigte und hängte auf. Er nahm eine Schirmlaterne mit roter Linse von einem Haken an der Wand, schüttelte sie, um zu sehen, ob genug Petroleum im Tank war, zündete den Docht an. Meechum blickte ihn fragend über seine Schachfiguren an.
    »Sie stoppen den
Limited?«
    Harding nickte. »Albany meldet, ein Brückenpfeiler sei eingestürzt. Wir sollen uns erst mal den Schaden ansehen, bevor wir einen Zug rüberlassen.«
    »Soll ich die Signallaterne für Sie anzünden?«
    Ein hoher Pfiff drang von draußen durch den Wind zu ihnen.
    Harding horchte auf, versuchte, die Entfernung abzuschätzen.
    Ein weiterer Pfiff ertönte, diesmal etwas lauter.
    »Keine Zeit. Ich stoppe ihn mit dieser…«
    Plötzlich ging die Tür auf, und ein Fremder stand auf der Schwelle, blickte sich wieselartig um. Er war wie ein Jockei gewachsen, drahtig schlank und klein. Ein blonder Schnurrbart und ebenso blondes Haar schauten unter dem lässig getragenen Strohhut hervor. Äußerst gepflegte Kleidung: ein nach der letzten englischen Mode geschnittener Anzug mit

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