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Um Haaresbreite

Um Haaresbreite

Titel: Um Haaresbreite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Cussler
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retten.
    »Wissen Sie, was passiert ist?« begann er.
    »Kollision. Ich war an Deck. Ein Schiff kam plötzlich aus dem Nebel auf uns zu. Fuhr uns direkt mit dem Bug in die Seite.«
    Der Vater hielt inne, nahm ein Taschentuch aus der Jacke, wischte das Blut vom Gesicht des toten Mädchens. »Martha hat mich angebettelt, sie nach England mitzunehmen. Ihre Mutter war dagegen, aber ich habe nachgegeben. O mein Gott, wenn ich es nur geahnt hätte…« Seine Stimme brach ab.
    »Sie können nichts mehr tun«, sagte Shields. »Sie müssen sich retten.«
    Der Vater drehte sich langsam um, blickte ihn an, ohne ihn zu sehen. »Ich habe sie getötet«, flüsterte er heiser.
    Shields kam nicht durch. Wut stieg in ihm auf und machte ihn noch verzweifelter.
    »Hören Sie!« rief er. »Irgendwo in den Trümmern ist ein Handkoffer mit einem Dokument, das unbedingt zum Foreign Office in London gelangen muß!« Er schrie jetzt. »Bitte, suchen Sie ihn!« Das Wasser quirlte in kleinen Strudeln, nur noch ein paar Meter entfernt von ihnen.
    Ölflecken und Kohlenstaub bildeten sich auf der Wasseroberfläche, während die Schreie Tausender Sterbender die Stille der Nacht zerrissen.
    »Bitte, hören Sie mir zu, bevor es zu spät ist«, flehte Shields.
    »Ihre Tochter ist tot.« Er schlug mit geballter Faust auf die Stahlkante, kümmerte sich nicht um den Schmerz, als seine Haut in Fetzen aufsprang. »Gehen Sie, solange noch Zeit ist. Finden Sie meinen Handkoffer und nehmen Sie ihn mit. Geben Sie ihn dem Kapitän; er weiß, was er zu tun hat.«
    Der Mann öffnete zitternd den Mund. »Ich kann Martha nicht allein lassen… sie fürchtet sich im Dunkel…« Er murmelte es wie ein Gebet.
    Das war das Ende. Es gab keine Möglichkeit mehr, den von Kummer überwältigten Vater zum Gehen zu bewegen, denn er hörte nichts mehr, beugte sich über seine Tochter und küßte sie auf die Stirn. Dann brach er schluchzend zusammen.
    Seltsamerweise wichen nun alle Wut und Verzweiflung von Shields. Jetzt, da er sich mit dem Tod und seinem Versagen abfand, hatten Angst und Schrecken ihren Sinn verloren. In der kurzen Lebensspanne, die ihm noch blieb, erhob er sich über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus und sah die Dinge mit außergewöhnlicher Klarheit.
    Eine dumpfe Explosion ertönte aus dem tiefen Inneren des Ozeanriesen, als die Dampfkessel zerbarsten. Der Rumpf neigte sich immer weiter zur Steuerbordseite, und dann glitt das Schiff, mit dem Heck voran, in die Fluten des Flußbettes. Zwischen dem Augenblick des Zusammenstoßes und dem Versinken vor den Augen der im eisigen Wasser um ihr Leben kämpfenden Menschen waren weniger als fünfzehn Minuten vergangen.
    Es war zwei Uhr zehn.
    Shields machte keinen Versuch, sich gegen das Unvermeidliche zu wehren, den Atem anzuhalten, um das Ende noch für ein paar Sekunden hinauszuschieben. Er öffnete den Mund, schluckte das faulig schmeckende Wasser, würgte, als es ihm die Kehle hinunterlief. So sank er in das luftlose Grab. Das Ersticken und Leiden ging rasch vorüber, und sein Bewußtsein verlosch. Und dann war nichts mehr.
3
    Eine wahre Höllennacht, sagte sich Sam Harding, der Bahnhofsvorsteher der
New York & Quebec Northern Railroad,
als er auf dem Bahnsteig stand und die zu beiden Seiten der Gleise stehenden Pappeln betrachtete, die sich unter dem Anprall der heftigen Windstöße fast in die Waagerechte bogen.
    Es war das Ende der Hitzewelle, die die Staaten von New England heimgesucht hatte. Der heißeste Mai seit 1880, wie die Wochenzeitung von Wacketshire in roten Schlagzeilen verkündete. Blitze zuckten durch den schwarzen Nachthimmel, und die Temperatur war innerhalb einer Stunde um achtzehn Grad gesunken. Harding stellte erstaunt fest, daß er fröstelte, als der Wind sein verschwitztes Baumwollhemd peitschte.
    Unten auf dem Fluß sah er die Lichter einer Reihe von Schleppkähnen, die ihren Weg stromabwärts tuckerten. Er sah die Lichter nacheinander verschwinden und dann wieder auftauchen, während sie an den Pfeilern der breiten Brücke vorbeifuhren.
    Hardings Bahnhof lag außerhalb der Stadt, die in Wirklichkeit ein Dorf war, und zwar dort, wo die Schienenstränge in einem Kreuz voneinander abzweigten. Die Hauptstrecke lief in nördlicher Richtung auf Albany zu, während die Abzweigung nach Osten führte, den Hudson auf der Deauville-Brücke überquerte, bis nach Columbiaville, um dann in Richtung Süden nach New York City abzubiegen.
    Noch war kein einziger Tropfen gefallen, doch die Luft roch

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