Unbekannt verzogen: Roman
ist.«
»Anders als in den vergangenen achtzehn Jahren, meinst du?« Helen schweigt. »Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen, weil mir immer so ein Bild im Kopf herumgespukt hat. Bob in einem Interview der Daily Mail , in dem er davon erzählt, dass er seinen dreißigjährigen Kampf gegen den Krebs niemals ohne meine Unterstützung hätte gewinnen können. Ich bin ebenfalls auf dem Foto, im Hintergrund, schief und krumm und buckelig, weil ich ihm die ganze Zeit das Essen auf dem Tablett servieren und seine Bettpfanne leeren musste, dabei immer nur den einen Gedanken im Kopf: Jetzt kratz endlich ab!«
Die schiefen Blicke der Vorübergehenden prallen unbemerkt an ihr ab.
»Und dann denke ich daran, wie sehr er mich gerade in dieser Situation braucht. Ihn zu verlassen wäre dasselbe, als würde man einen jungen Hund auf der Autobahn aussetzen.«
Der Gedanke macht sie so traurig, dass sie nicht einmal Augen für den drahtigen jungen Mann hat, der mit selbstsicherem Schritt an ihnen vorbeijoggt. Helen hingegen fährt auf ihn ab wie eine Katze auf Katzenminze.
»Ich will doch nur Leidenschaft«, sagt Carol, ohne von den plötzlichen Wallungen ihrer Freundin etwas mitzubekommen. »Ich will Heathcliff und Sturmhöhe .«
»Dann lies das Buch. Zieh dir die DVD rein.« Schmachtend blickt sie dem Jogger hinterher, der auf seinen strammen Waden aus ihrem Leben davoneilt.
»Ich dachte immer, mit Mitte, Ende dreißig mache ich mir einen Kopf um vollwertige Ernährung und schmeiße Dinnerpartys für lauter interessante Leute.«
»Wenn die Biosachen bloß nicht so teuer wären …« Helen hat es gründlich die Petersilie verhagelt. Sie schmollt, weil der Jogger sich nicht auch nach ihr umgedreht hat, weil er nicht stehen geblieben ist und sie auf der Stelle genommen hat, auf der Kinderschaukel oder mit dem Rücken an die feuchte Rinde einer Eiche gepresst.
Carols Stimme holt sie wieder auf den harten Boden der Realität zurück.
»Ich hab gestern Abend an Richard gedacht.«
»Auf den Namen hab ich nur gewartet«, sagt Helen. »Nachdem du letztens Athen erwähnt hast, war es nur noch eine Frage der Zeit.«
»Ich weiß ja, dass dir das nicht gefällt …«
»Richard war nur eine Affäre.«
»Bob doch auch. Und was ist aus uns geworden?«
»Trotzdem, das bringt dich nicht weiter.«
»Vielleicht will ich ja nur wissen, wo er jetzt ist.«
»Und was würde dir das nützen? Richard ist nicht mehr Teildeines Lebens. Das weißt du, und das müsste dir eigentlich reichen.« Weil ihr die Rolle der Spielverderberin offensichtlich unangenehm ist, wird sie wieder sanfter. »Genau deshalb sollst du ja auch den Brief ans Universum schreiben. Manchmal muss es einfach raus. Schreib dir alles von der Seele.«
Carol ist schon fast überzeugt, doch dann fällt ihr ein, dass dieser Rat von einer Frau kommt, die sogar schon einmal eine Eigenurinkur gemacht hat und bei der sie bis heute auf der Hut ist, bevor sie sich etwas zu trinken aus ihrem Kühlschrank nimmt.
»Ich überleg’s mir«, sagt sie.
»Du weißt genauso gut wie ich, worauf das hinausläuft.«
»Nein, im Ernst«, entgegnet Carol, obwohl sie nicht im Traum daran denkt, noch einmal so einen Brief zu schreiben. »Lass mir nur ein bisschen Zeit.«
14
»Du warst krank?«
»Eigentlich nicht«, sagt Albert. »Es war eher ein freier Tag.«
Sein Kollege Mickey Wong lässt sich die Antwort durch den Kopf gehen. »Dann hast du also blaugemacht?«
»Das kann man so auch nicht sagen. Es war Darrens Idee.«
»Ist schon klar. So ein Arsch. Da wird gekungelt, was das Zeug hält. Jeder nimmt, was er kriegen kann. Das ganze System ist verlottert. Ach was, das ganze Land.«
Albert kommt es leicht übertrieben vor, wegen eines einzigen dubiosen Fehltags – des ersten seit vierzig Jahren – die ganze Nation an den Pranger zu stellen. Aber das ist eben typisch Mickey.
Äußerlich ist er ein Chinese, wie er im Buche steht, ein Mao im Westentaschenformat. Aber sobald er den Mund aufmacht, verwandelt er sich in einen waschechten Londoner Jungen. Wenn man ihm mit geschlossenen Augen zuhört, fühlt man sich in eine verruchte Ecke im tiefsten Hackney versetzt, verzweifelt nach einem Polizisten oder einem leeren Taxi Ausschau haltend.
Mickeys bevorzugte Gesprächsthemen tragen auch nicht gerade zu seiner Beliebtheit bei. Man könnte sagen, dass er auf brutalstmögliche Offenheit und Beleidigungen spezialisiert ist, ohne die geringste Rücksicht auf die Gefühle seines Gegenübers.
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