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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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besseren, glücklicheren und unschuldigeren Zeit schöngefärbt war.
    »Das war einer der besten Tage meines Lebens«, sagte er über das Konzert einer der vielen immergleichen Bands. »Ich finde, die Neunziger haben kaum was Besseres hervorgebracht.«
    Fast hätte Carol angemerkt, dass die Band überhaupt nicht aus den Neunzigern herausgekommen ist. Sie war sang- und klanglos mit ihrem Jahrzehnt untergegangen, und ihre Mitglieder saßen inzwischen wahrscheinlich bei Tesco und B&Q an der Kasse.
    Kein Wunder also, dass sie am Montagmorgen buchstäblich aus dem Bett springt.
    »Es ist noch nicht mal sieben«, sagt Bob, als sie nach unten läuft, fertig angezogen und aufbruchbereit.
    »Ich muss einiges nacharbeiten.«
    »Wir können doch wenigstens zusammen frühstücken.«
    »Ich hol mir unterwegs was.«
    Plötzlich wird ihr bewusst, wie verloren er aussieht, der potenzielle Krebspatient. Sie bleibt stehen und schlägt einen besorgten Ton an. »Kommst du allein zurecht?«
    Das ist mir so was von scheißegal.
    »Ja, schon«, antwortet er kläglich. »Geh du ruhig.«
    Sie drückt ihm ein Küsschen auf die Stirn – so erotisch wie Florence Nightingale auf einer Tb-Station – und verlässt fluchtartig das Haus.
    Carols Begeisterung für das Büro verfliegt, sobald sie es betreten hat. Mit der künstlichen Beleuchtung und dem sterilen Mobiliar erscheint es ihr in mancher Hinsicht wie die konsequente Fortsetzung ihres häuslichen Umfelds, als hätte sie Bob immer noch am Bein, wenn auch in anderer Form und Gestalt. Da ist Bob, der unbequeme Stuhl. Und Bob, der viel zu hohe Schreibtisch. Am anderen Ende des Raums steht Bob, der Fotokopierer, der entweder einen Papierstau hat oder schiefe Kopien ausspuckt – oder beides. Nicht zu vergessen auch das Büromaskottchen: Bob, das Glas Pulverkaffee.
    »Du bist aber heute früh dran«, staunt Cynthia, ihre Büronachbarin.
    »Du kennst mich doch«, antwortet Carol. »Einen blauen Montag gibt es für mich nicht.«
    Cynthia setzt sich an den Schreibtisch und beginnt mit ihrem aufwändigen Muffin-Ritual: Sie schält dem Gebäck das Papier so langsam vom Leib, dass es fast aufreizend wirkt, als hätte sie etwas anderes damit vor, als es lediglich zu verspeisen.
    »Ist das dein ganzes Frühstück?«, fragt Carol.
    »Frühstück? Ach was«, sagt Cynthia und beißt hinein. »Das ist mein Après-Frühstückssnack. Ich muss Energie tanken.«
    Mit ihren gut drei Zentnern verbraucht Cynthia wahrscheinlich mehr Energie als die meisten anderen Menschen, nur um sich zur Toilette zu schleppen – vielleicht sogar schon beim Stillsitzen und Atmen.
    Wegen ihres alarmierenden Übergewichts ist sie sehr empfindlich, was ihre Figur angeht. »In meiner Familie sind wir alle so gebaut«, lautet ihre übliche Antwort.
    »Weil ihr alle Vielfraße seid«, hat mal ein Kollege entgegnet. Noch am selben Tag wurde er in eine andere Abteilung versetzt.
    Seitdem hüten sich alle davor, Cynthias Gewicht zu erwähnen. Sie sehen stumm zu, wie sie sich durch den Tag frisst und von Monat zu Monat fetter wird. Carol fragt sich manchmal, wohin das wohl noch führen wird. Ob die Firma sich wohl irgendwann dazu gezwungen sehen wird, aus Gründen der Political Correctness in einen Kran zu investieren, um sie ins Büro zu hieven? Oder werden alle Mitarbeiter mit Schutzkleidung ausgestattet, um für ihr unvermeidliches Platzen gerüstet zu sein?
    »Wo bist du denn letzte Woche gewesen?«, fragt Cynthia und nimmt den nächsten Muffin aus der Tüte.
    »Mein Mann war krank.« Was für eine platte Antwort. Sie wird dem Drama, das Carol seit fünf Tagen durchlebt, in keiner Weise gerecht. »Er hat einen Knoten, am Hoden. Es könnte Krebs sein.«
    »Scheiße, das ist ja heftig.« Nachdem ihr offenbar die Lust auf ein weiteres Vorspiel vergangen ist, reißt sie dem Muffin ruck, zuck das Papier herunter und schlägt die Zähne hinein. »Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn mein Mann so was hätte.«
    Die Gefahr besteht wohl nicht – wenn Cynthias Mann ihrauch nur ein klein wenig ähnlich sieht, hat er seine Eier wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Außerdem könnte er gar keinen Krebs kriegen, weil er vorher schon längst an etwas anderem gestorben wäre.
    »Wir lassen es jetzt erst mal auf uns zukommen. Einen Schritt nach dem anderen.«
    »Ja, ja, das Leben«, sagt Cynthia nach längerem Mampfen. »Kann einem ganz schön auf den Sack gehen, was?«
    Sie prustet mit vollem Mund los.
    Mit ein

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