Unbekannt verzogen: Roman
als ein Schrecken ohne Ende«, antwortet Carol. Sofort beißt sie sich auf die Zunge. Eine unpassendere Bemerkung hätte ihr wohl nicht einfallen können. Sogar Bob hat gemerkt, wie unsensibel ihre Antwort ist. »Ich meine bloß, je schneller man einem Problem zu Leibe rückt, desto schneller hat man es hinter sich.«
Wie die Katze um den heißen Brei schleichen sie noch immer um das Thema herum. Auch nach achtzehn Ehejahren mit gelegentlichem Geschlechtsverkehr tun sie sich schwer damit, über seine Hoden zu reden. Und seitdem sich in ihrem Leben alles nur noch um Bobs Nüsse dreht, bleiben ihre Gespräche jedes Mal in einem Morast aus Peinlichkeit stecken.
»Anscheinend ist es ein unkomplizierter Routineeingriff«, sagt er.
»Das denke ich auch.«
»Ich darf am nächsten Tag schon wieder nach Hause. Und auch wenn ich dann nur noch … einen habe, bin ich immer noch zeugungsfähig.«
Carol hat keine Ahnung, was sie dazu sagen soll. Da sie sich seit Jahren um den Sex mit ihm herumdrückt, steht seine Zeugungsfähigkeit eigentlich sowieso nicht mehr zur Debatte. Und selbst wenn sie ihn tatsächlich liebte, wüsste sie nicht, warum sie sich mit achtunddreißig noch ein Kind zulegen sollte. Etwa, um sich ihre Vierziger und Fünfziger auch noch zu versauen?
Und was würde Sophie von einem Geschwisterchen halten? Carol kann sich gut vorstellen, dass sie es ablehnen, indoktrinieren oder gar umbringen würde. Nur ein Bild von trautem Familienglück will sich auf Teufel komm raus nicht einstellen.
Bob sieht sie erwartungsvoll an. Er hofft immer noch auf eine Bestätigung, dass er sein Flugzeug auch mit nur einem Triebwerk heil ans Ziel bringen kann.
»Das ist schön«, sagt sie. Ein bisschen schwach vielleicht, aber etwas Besseres fällt ihr nicht ein. »Dann weiß ich ja, an wen ich mich wenden muss, falls ich noch mal schwanger werden will.«
Als Lobgesang auf seine Manneskraft lässt ihre Antwort einiges zu wünschen übrig, aber jemand wie Bob müsste eigentlich um jedes Kompliment froh sein. Es ist ja schließlich nicht so, als wäre er sein Leben lang vom anderen Geschlecht bewundert und begehrt worden – und von seinem eigenen vermutlich auch nicht. Carol hat zwar keine homosexuellen Bekannten, hält es aber trotzdem für ziemlich zweifelhaft, dass der normale Durchschnittsschwule auf die Idee kommen würde, als Wichsvorlage ausgerechnet auf ein Bild von Bob zurückzugreifen.
»Und was möchtest du dieses Wochenende unternehmen?«, fragt er.
»Nein, das sollte ich dich fragen.«
Mit dieser Antwort hat Bob offensichtlich gerechnet. Sie wissen beide, dass die nächsten Tage ihm gehören, genau wie die kommende Woche und womöglich auch noch die kommenden Monate oder Jahre.
»Mir ist alles recht«, sagt Carol. »Es ist dein Wochenende.«
Als es endlich Montag ist, könnte Carol höchstens eine Atomexplosion davon abhalten, ins Büro zu fahren. Ja, sie würde barfuß durch die rauchenden Ruinen Londons gehen, um von Bob wegzukommen.
Sophie, deren Informationsstand ein gnädigeres Urteil nicht zulässt, ist offenbar zu dem Schluss gekommen, dass sich ihreEltern wie jämmerliche Loser aufführen, und für ein paar Tage zu einer Freundin gezogen. Allein mit Bob und ohne das übliche Familienhickhack war das Wochenende für Carol eine sich immer schneller drehende Abwärtsspirale, die in einer gefühlsduseligen musikalischen Nabelschau mündete, begleitet von stundenlangem Abspielen der immer gleichen Kate-Bush-Videos auf YouTube und sentimentalen Erinnerungsschwelgereien, die durch eine Sammlung angegammelter Rock-Festival-Einlassarmbänder ausgelöst wurden.
Bis dahin wäre Carol nie auf die Idee gekommen, Kate Bush als symptomatisch für ein psychisches Problem anzusehen, doch damit machte Bob ein für allemal Schluss. Beim vierten Abspielen von Army Dreamers wurde er von seinen Emotionen regelrecht übermannt.
»Das sollten sie vor den Rekrutierungsbüros spielen«, sagte er. »Kate hat uns die Wahrheit über den Irak gesagt, aber wir wollten es nicht wissen.«
»Bob, der Song ist von 1983.«
»Kate hat es damals schon kommen sehen. Du musst nur genau hinhören.«
Beim nostalgischen Schwärmen über die Armbänder hätte eine Prise Humor nicht geschadet. Carol erinnerten sie nämlich weniger an musikalische Hochgenüsse als an lange Schlangen vor stinkenden Toiletten und endlose Verkehrsstaus. Aber Bob hatte die Geschichte verklärend umgeschrieben, bis jedes Armband zum kitschigen Zeugnis einer
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