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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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weiterhelfen.«
    »Hab ich dich etwa darum gebeten? In einer Stunde kommt der Mechaniker.«
    Das hätte es früher auch nicht gegeben, denkt Albert, als er davonschlurft. In den alten Zeiten sah man zu einem Mann, der kurz vor der Pensionierung stand, auf wie zu einem Helden. Damals hätte es ein Lehrling sogar als besondere Ehre empfunden, sich von so jemandem eine Ohrfeige einzufangen.
    »Die Welt ist verrückt geworden«, murmelt er. »Die Besten sind alle schon unter der Erde …«
    Eine reichlich verunglückte Wortwahl, auch wenn ihm sowieso keiner zuhört. Es graut ihm schon genug vor dem drohenden Ruhestand, da braucht er nicht auch noch den Tod mit ins Spiel zu bringen.
    Vom anderen Ende der Halle eine Stimme: »Du bist wirklich zu beneiden, Albert.«
    Er blickt auf. Sein Vorgesetzter Darren kommt auf ihn zu: Abteilungsleiter, Mitte vierzig, mit einer Vorliebe für Klemmbretter.
    »Noch ein paar Wochen, dann hast du es hinter dir.« Betreten bricht er ab. »Die Arbeit, meine ich natürlich. Endlich raus aus diesem Laden, tun und lassen, wozu du Lust hast.«
    »Ich würde lieber weiterarbeiten.«
    »Ach was, das ist nicht dein Ernst.« Er wartet Alberts Antwort gar nicht erst ab. »Ich würde gern mit dir tauschen. Du kannst dir deine Zeit frei einteilen, gemütlich im Garten werkeln …«
    »Ich wohne im sechsten Stock.«
    »Blumenkästen sind doch auch was Feines. Dafür braucht man ja auch einen grünen Daumen. Und endlich Zeit für die Enkel.«
    Albert, der keine Kinder hat, schweigt lieber. Kinderlosigkeit versetzt andere Leute in Angst und Schrecken. Als würde er sie, nur weil er keine Frau und keine Familie hat, womöglich eines Tages bitten, mit ihm auf die Toilette zu gehen oder ihn zu baden.
    »… die Vergnügungsparks sind für die Kids das Größte. Und als Rentner kriegt man bestimmt überall ermäßigten Eintritt.«
    »Na, auf jeden Fall wird sich meine Katze über die Gesellschaft freuen.« Das immerhin kann Albert im Brustton der Überzeugung sagen: dass ihn seine Katze, das einzige Lebewesen, das er hat, auch weiterhin lieben und brauchen wird.
    »Na also«, sagt Darren. »Und Kinder lieben Tiere.« Mit einer großspurigen Geste sieht er auf seine Uhr. »Du bist der Mann der Stunde. Sag mir einfach Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann.«
    Er läuft so eilig davon, dass Albert keine Chance mehr hat, irgendetwas zu antworten – um seinen Job zu betteln beispielsweise oder ihn gleich zu bitten, nach draußen gebracht und erschossen zu werden.
    Während Albert noch hinter ihm herblickt, kommt eine der jungen Frauen aus der Verwaltung auf ihn zu.
    »Albert?«, sagt sie mit der starr beklommenen Miene desjenigen, der eine traurige Nachricht übermitteln muss. »Ihr Nachbar hat gerade angerufen. Es geht um Ihre Katze …«

5
    Wenigstens ist Gloria nicht tot. Aber schwer! Schon erstaunlich, wie viel zwei Gipsbeine ausmachen. Aber wenigstens ist sie nicht tot.
    Eine jüngere Katze hätte den Sturz vielleicht besser überstanden, aber eine jüngere Katze wäre wahrscheinlich auch nicht im sechsten Stock aus dem Fenster gesprungen.
    Das ist das Problem, wenn man alt wird, denkt Albert. Gerade wenn man ihn am nötigsten braucht, lässt einen der Verstand im Stich.
    So weit ist es mit ihm zwar noch nicht gekommen, aber er fragt sich doch, wie es in Zukunft aussehen wird. Wer soll ihn davon abhalten, im Schlafanzug durch die Straßen zu wandern oder auf den Bahngleisen herumzuspazieren? Eigentlich hat er sich immer darauf verlassen, dass Gloria sein Fels in der Brandung sein würde, aber davon kann er inzwischen wohl kaum noch ausgehen.
    Betrunkenes Gegröle hallt durch den Abend. Albert beeilt sich, nach Hause zu kommen. Die Straßen sind schon jetzt leerer, als es ihm lieb ist. Wenn es dunkel wird, ist es ratsam, auf Tauchstation zu gehen.
    In solchen Augenblicken ist er froh, dass er seine Uniformjacke trägt, deren Post-Logo verkündet, dass er in einer neutralen Mission unterwegs ist. Er hat sein Leben der vorurteilsfreien Zustellung von Briefen verschrieben, ganz gleich, ob sie für einen Sünder oder einen Heiligen bestimmt sind.
    Ob er die Jacke wohl behalten darf, wenn er in ein paar Wochen in Rente geht? Fragt sich nur, wozu. Natürlich möchte er sie am liebsten auch weiterhin tragen, aber damit würde er sich nur alle möglichen Probleme einhandeln. Fremde Leute würden sich auf der Straße bei ihm über verlorengegangene Sendungen beschweren oder wissen wollen, warum ein Eilbrieffür

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