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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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mit der Vergangenheit nicht endgültig abgeschlossen. Ein Teil von ihr ist immer auf dem Friedhof geblieben, hat den Erinnerungen an früher nachgehangen und sich gewünscht, eine zweite Chance zu bekommen.
    Vielleicht hätte sie weiter tagtäglich an sein Grab pilgern sollen. Womöglich wäre sie dann ein besserer Mensch geworden, eine bessere Mutter. Auf diese Weise hätte sie wenigstens Stellung bezogen und wäre sich selbst treu geblieben.
    »Wo ist denn Carol?«, hätte es geheißen.
    »Auf dem Friedhof, wo sonst?« Als wäre es für eine junge Frau das Normalste der Welt, den Rest ihres Lebens einem Grabstein zu widmen.
    Sie hätte als wettergegerbte, wunderliche Alte enden können, für immer und ewig neben Richard kampierend, eine feste Größe, genau wie die Toten, und doch ein Trost für die Hinterbliebenen, die die Nachbargräber besuchen.
    »Entschuldige«, murmelt Carol, während sie den Stein reinigt, »ich hab dich vernachlässigt.«
    Sie errötet, noch immer verlegen in seiner Gegenwart.
    »Aber dafür siehst du eigentlich noch ganz gut aus.«
    Unwillkürlich macht sie eine Pause, damit er antworten kann, und lächelt, als er schweigt, weil es sein Schweigen ist.
    »Ich habe endlich an Sophie geschrieben. Wahrscheinlich hält sie es für das Gefasel einer Irren, aber ich glaube, es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ein bisschen komme ich wohl wie ein Flittchen rüber – schließlich war ich ja eine verheiratete Frau und Mutter, als ich mich in dich verliebt habe –, aber sie muss wissen, was ich ihr zuliebe aufgegeben habe, sonst kann sie sich auf die letzten fünfzehn Jahre überhaupt keinen Reim machen. Und vielleicht lernt sie ja sogar etwas daraus: Wer es immer allen recht machen will, kann am Ende nur alle enttäuschen, inklusive sich selbst.
    Ich weiß, ich sollte ihr das alles offen ins Gesicht sagen, aber …« Sie seufzt tief auf. Sie will sich ihren Besuch bei Richard nicht durch ihr chaotisches Leben verderben lassen. »Also schicke ich’s ihr lieber mit der Post. Sie hat tatsächlich einen eigenen Briefkasten neben unserem. Das scheint bei den jungen Leuten gerade in zu sein. Um ihre Privatsphäre zu schützen. Dabei kriegt Sophie überhaupt keine Briefe, höchstens von Mensa, diesem Club der Intelligenzbestien …« Sie unterbricht sich. »Da siehst du, was für eine Mutter ich bin, immer am Meckern und Nörgeln. Traumhaft.«
    Sie blickt sich nach allen Seiten um. Kein Mensch in Sicht.
    »Und jetzt brauche ich eine Umarmung.«
    Sie setzt sich vorsichtig hin, um ihren Mantel nicht schmutzig zu machen, und lehnt sich mit dem Rücken an den Grabstein, ein bisschen besorgt, dass er nach hinten umkippen könnte. Doch er fühlt sich fest verankert an, ein sicherer Halt. Sie fühlt sich geborgen, wie damals, wenn sie sich im Bett an Richard geschmiegt hat. Entspannt lässt sie den Kopf gegen den kalten Granit zurücksinken und stellt sich vor, wie es wäre, Richard wiederzuhaben. Gleich hier, auf der feuchten Erde, sie umschlingend. In ihr.
    »Gestern Abend ist mir etwas aufgegangen. Als ich mich damals entschlossen hatte, bei Bob zu bleiben, hieß das im Grunde, dass es in Ordnung ist, ein Kind in einer lieblosen Umgebung großzuziehen. Insofern habe ich als Mutter schon von Anfang an versagt. Das begreife ich erst jetzt.«
    Ein Vogelschwarm zieht über sie hinweg, düster vor dem bleigrauen Himmel. Während sie ihm nachblickt, schweben ihre Gedanken frei zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod.
    »Sophie hat neulich dein Foto gesehen. Ich musste an unseren Tag damals im Park denken …« Sie lächelt. Was für eine Mühe sie sich gemacht hatte, ihre Spuren zu verwischen, wie sie einen möglichst weit von Croydon entfernten Park ausgesucht hatte, wo niemand sie kannte, sodass der größte Teil des Tages allein schon für die Hin- und Rückfahrt draufging. Doch die Heimlichtuerei hatte zu dem Spaß mit dazugehört, genau wie die Fahrerei, weil sie zusammen waren und vor aller Welt wie stolze junge Eltern auftraten.
    »Sophie konnte dich gut leiden, das weiß ich noch …« Sie schmeckt die Bitterkeit, die in ihren Worten liegt, die Wahrheit, die sie sich ewig nicht eingestehen konnte. Sophie brauchte ihren richtigen Vater, war das nicht das Dogma der letzten achtzehn Jahre? Erst jetzt, im Rückblick, kann sie erkennen, dass sie diesen einen Tag im Park tausendfach hätten wiederholen können – Richard, wie er sich liebevoll um Sophie kümmert, als ob sie seine eigene

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