Unbekannt verzogen: Roman
fühlst.«
»Ist es das?«
Sie sind beide von der Heftigkeit ihrer Antwort überrascht. Helen wendet den Blick ab, und einen Augenblick lang ist Carol sich ganz sicher, dass sie in ihrer Miene so etwas wie Schuldgefühle lesen kann.
59
Albert, der auf Herz und Nieren untersucht worden ist, hängt noch am Tropf. Seit er außer Lebensgefahr ist, quält ihn die viel größere Angst, dass es mit seinem sorgsam geordneten Leben aus und vorbei sein könnte.
Gloria ist bestimmt schon tot, und man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was sie mit seiner Wohnung machen werden. Eine Sozialwohnung im tiefsten Südlondon, deren Tür aufgebrochen ist! Sicher sieht es bei ihm zu Hause inzwischen aus wie auf Haiti nach dem Erdbeben: alles geplündert und verwüstet, gestohlen, was ihm lieb und teuer ist, und der Rest auf die Straße gekippt. Die Kleider seiner Frau. Ihr Kopfkissen.
Ihm kommen die Tränen.
»Schluss damit«, ermahnt er sich streng. Ein Mann weint nicht, und nachdem er sich so viele Jahre zusammengerissen hat, gibt es jetzt erst recht keine Entschuldigung mehr dafür. Sein ganzes Leben scheint ihm plötzlich auf tönernen Füßen zu stehen. Da hat er sich immer bemüht, zumindest an einer Ahnung von Glück festzuhalten, ohne zu wissen, dass dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Die Welt ist grausam und böse, zu brutal für eine so verwundbare Existenz wie ihn.
Ein wenig Trost spendet ihm nur der Gedanke, dass die meisten Leute aus seiner Wohnsiedlung wohl kaum große Leser sind oder sowieso Analphabeten. Deshalb sind Carols Briefe wahrscheinlich sicherer als alles andere in der Wohnung, aber ihr Schrein ist trotzdem entweiht. Nur er hat das Recht, die Plätzchendose zu öffnen, nur er allein.
»Scheißkerle«, murmelt er vor sich hin.
»Wie bitte?« Eine Krankenschwester zieht den Vorhang vor seinem Bett zurück. »Ach Gottchen, wer wird denn weinen? Wir sind doch hier, um Ihnen zu helfen.«
»Ich weiß«, sagt er verlegen. »Es … es ist nichts weiter.«
Während sie sein Kissen aufschüttelt, steigt ihm ein leiser Duft nach Seife und Weichspüler in die Nase. »Sie bekommen bald Besuch von Ihrer Sozialhelferin.«
Albert erstarrt. Sozialhelfer sind etwas für Leute, die durchs Raster gefallen sind, bei denen Hopfen und Malz verloren ist. Wer Betreuung braucht, ist hilflos und kommt allein nicht mehr zurecht. Damit bescheinigt man ihm endgültig, dass er sein Leben nicht mehr im Griff hat.
»Das ist aber wirklich nicht nötig«, protestiert er.
»Na, na«, lacht sie. »Das können Sie Ihr dann ja selber sagen.«
Pat ist weniger eine Frau als eine Naturgewalt. Albert fühlt sie nahen, noch bevor sie im Zimmer ist, wie bei einer U-Bahn, die eine Wand aus stickiger Luft vor sich her schiebt.
»Albert!« Mit Schwung reißt sie den Vorhang zurück. »Ich bin Pat. Wie ich mich freue, Sie zu sehen!«
Sie hat einen starken Waliser Akzent, ihre Worte klingen fast jubilierend, als könnten sie jeden Augenblick in Gesang übergehen.
»Kennen wir uns?«, wundert er sich.
»Jetzt schon! Ich bin Ihre Sozialhelferin.« Sie setzt sich zu ihm aufs Bett und nimmt seine Hand. »Sie müssen vermutlich noch ein paar Tage hierbleiben. Wie geht es Ihnen?«
»Ist Gloria tot?«, fragt er mit tränenerstickter Stimme.
Pat sieht ihn verständnislos an.
»Gloria ist meine Katze.«
»Tot? Ach was, natürlich nicht! Das arme Ding sieht zwar aus wie eine Sphinx aus dem Britischen Museum, aber tot ist sie noch lange nicht.«
Es dauert ein paar Sekunden, bis die gute Nachricht zu Albert durchgedrungen ist. Aber was ihn am meisten beruhigt, ist Pats Lächeln. Diese Frau ist ein wandelnder Sonnenstrahl.
»Wo ist sie denn untergebracht?«
»Also, es war nicht ganz einfach, aber wir haben einen guten Pflegeplatz für sie gefunden, und jetzt ist alles in schönster Ordnung.« Sie klingt etwas zögernd, als wolle sie überspielen, dass die ganze Prozedur ziemlich chaotisch verlaufen ist – dass Gloria von Hand zu Hand und zwischendurch vielleicht auch mal ganz verloren gegangen ist.
»Reden wir auch ganz bestimmt von derselben Katze?«
»So eine ältere Getigerte? Mit zwei gebrochenen Beinen? Natürlich, in London gibt es nichts, was es nicht gibt, aber mit dieser Katze sind Sie wohl außer Konkurrenz.«
»Ich kümmere mich gut um sie.«
»Ja, das merkt man.«
»Sie hat nur deshalb in ihrem eigenen Dreck gesessen, weil ich nicht zu ihr hinkonnte.«
»Das weiß ich doch. Sie ist ein
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