Unberuehrbar
über die Stirn. Er hatte Kopfschmerzen und wollte seine Ruhe. Aber die würde ihm so bald nicht vergönnt sein. Nicht, ehe die Sonne aufging und all diese Jungspunde endlich schlafen legte. »Sid, was gibt es?«
Als hätte er nur auf ein Zeichen gewartet, verschwamm im nächsten Moment die Wand vor Cedrics Augen, und die hagere Gestalt des Wächters von White Chapel floss in den Fahrstuhl. Die blauschwarzen Augen glühten unter dem zottigen weißen Haar, und er hatte die Fangzähne zu einem breiten Grinsen gefletscht.
»Ich dachte schon, Sie wollen sich die ganze Nacht bei der Irren da drin verstecken.«
Cedric hob die Brauen. »Verstecken ist nicht das Wort, das ich gebrauchen würde, Sid. Ich nenne es für gewöhnlich Arbeit.«
Sids Grinsen wurde noch ein wenig breiter. »Pei Lin schleicht schon seit einer halben Stunde über den Flur vor Ihrem Büro und hält Ausschau nach Ihnen. Und nach mir.« Er kicherte und ließ die langen Fingernägel mit einem nervenzerfetzenden Quietschen über die Schalttafel des Fahrstuhls gleiten. »Waren Sie verabredet oder so?«
Cedric spürte, wie er sich versteifte. Er wusste selbst, dass er Pei Lin schon um halb zwei hatte treffen wollen. Aber dass sie zu jedem Termin zu früh erschien, war nun wirklich nicht seine Schuld.
»Der neue Biotechniker kommt heute, Sid. Schon vergessen?« Nur mit Mühe gelang es ihm, den unwilligen Unterton in seiner Stimme zu unterdrücken. Nachdem der Antrag auf eine Neubesetzung der Biotechnik zunächst etliche Wochen auf die Bewilligung hatte warten müssen, hatten die Vertreter des Referats für Forschungsförderung endlich entschieden, dass White Chapel nach dem Verlust von gleich zwei Mitarbeitern tatsächlich unterbesetzt war. Doch anders als vorher lag es nun nicht mehr an Cedric selbst, die Stelle zu vergeben. Und das, dessen war er sich schmerzlich bewusst, bedeutete im Grunde nur eines: Man schickte ihm einen Spion. Sein Antrag, mit konservativen Versuchsobjekten arbeiten zu dürfen, hatte White Chapel unangenehm weit in den Fokus des Parlaments gerückt. Die allzeit auf ihren Vorteil bedachten Politiker witterten, dass hier etwas Bedeutsames vorging. Nur wussten sie nicht, was, und natürlich gefiel ihnen das überhaupt nicht. Also würde eines ihrer Schäfchen ab heute in Cedrics Team arbeiten – und er konnte nichts dagegen tun.
Der Fahrstuhl hielt mit leisem Klingeln. Cedric warf seinem Wächter einen scharfen Blick zu. »Sid, ich möchte, dass du dich jetzt zurückziehst. Verhalt dich genau so, wie wir es besprochen haben. Und kein Wort von der ›Irren‹. Zu niemandem. Ist das klar?«
Sid salutierte flapsig. »Jawohl, Doc. Sie können sich auf mich verlassen.« Innerhalb von Sekunden war er im Fußboden verschwunden.
Cedric warf einen letzten Blick auf die Stelle, wo die Metallplatten noch einen Moment vibrierten und dann zur Ruhe kamen, als wäre der Wächter niemals hier gewesen. »Ich weiß, Sid«, murmelte er. »Ich weiß. Aber auf wen sonst noch?«
Dann trat er auf den Flur hinaus.
Wie Sid es vorhergesagt hatte, wartete Cedrics Assistentin bereits vor seinem Büro. Ihr helles Kostüm saß wie immer tadellos, und kein einziges Haar fiel aus dem strengen Knoten in ihr Gesicht. Wenn es irgendeinen Vampir gab, auf den die Bezeichnung konservativ passte, dachte Cedric, dann war es ganz bestimmt Pei Lin. Sie war akkurat und fleißig, penibel und zuverlässig, gewissenhaft – und völlig leidenschaftslos.
Und sie war ihm eine große Hilfe, seit Katherine nicht mehr da war, erinnerte er sich selbst energisch. Seinen Zynismus an ihr auszulassen war nicht richtig. Er straffte die Schultern und bemühte sich um ein Lächeln, als er vor ihr stehen blieb. »Pei Lin, tut mir leid, dass du warten musstest.«
Auch Pei Lin lächelte, in ihrer wohlerzogenen, unverbindlichen Art. Sie würde niemals zu offen zeigen, wenn sie sich über ihn ärgerte. »Das macht nichts, Cedric. Ich weiß doch, wie viel du zu tun hast. Ich dachte nur, es wäre gut, wenn wir noch einmal besprechen, was wir diesen neuen Biotechniker fragen wollen.«
Cedric schloss die Tür zu seinem Büro auf und trat zur Seite, um seiner Assistentin den Vortritt zu lassen. »Ja, nun.« Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein, obwohl er für gewöhnlich lieber im gedämpften Licht seiner Schreibtischlampe arbeitete. »Ich wüsste nicht, was es da groß zu fragen gäbe – abgesehen von seinem Namen vielleicht. Ändern können wir an der Entscheidung ja sowieso
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