Und dann kusste er mich
stieß ich hervor und sprang auf.
Er runzelte die Stirn. »Ja. Und du auch. Als Sängerin. Tolle Stimme, übrigens. Unglaublich.«
»Ähm – danke … Also, ich muss jetzt los …«
»Nein, musst du nicht. Eine halbe Stunde hast du mindestens noch Zeit. Sie servieren gerade das Dessert.«
Sein Blick ruhte unverwandt auf mir, und seine Augen waren so wunderschön, wie ich sie in Erinnerung hatte. Doch was hatte es für einen Sinn, mich davon betören zu lassen, wenn ich doch genau wusste, was er mir gleich mitteilen würde?
»Bitte, setz dich wieder hin. Seit ich dich heute Nachmittag gesehen habe, überlege ich hin und her, wie ich dir beibringen soll, was ich auf dem Herzen habe … Du wirst mich vielleicht für verrückt halten, aber hör mich trotzdem an, okay?«
Ich nahm wieder auf der schmiedeeisernen Bank Platz. »Wohin bist du verschwunden? Ich meine, letztes Jahr. Warum musstest du so plötzlich gehen?«
Er seufzte: »Mein Bruder hatte gerade von Issies Unfall erfahren und dass die Ärzte mit dem Schlimmsten rechneten. Sie ist heute die Braut. Du kannst dir sicher vorstellen, was sie seitdem durchgemacht hat. Ich musste ihr beistehen – das war selbstverständlich. Auch wenn es vielleicht keine Rolle spielt: Es tut mir leid.«
Jetzt ergab alles einen Sinn. In dieser Situation hätte jeder sofort so reagiert wie er.
Ich blickte auf meine silberfarbenen High Heels hinunter, die mit dem vereisten Rasen um die Wette glitzerten. »Ich verstehe. Tut mir leid mit deiner Frau. Aber zum Glück hat sie sich wieder erholt und kann den heutigen Tag genießen.«
»Sie ist …«
»Entschuldige, dass ich heute Nachmittag weggerannt bin. Es war einfach ein Riesenschock, dich nach der ganzen Suche und allem plötzlich wiederzusehen.«
Ich spürte, wie er mich musterte. Als ich zu ihm aufblickte, stand totale Ratlosigkeit in seiner Miene. »Entschuldige, aber was für eine Suche?«
Angesichts unseres plötzlichen Wiedersehens konnte ich ihn, völlig aus der Bahn geworfen, nur anstarren. »Ähm … ich weiß nicht … entschuldige, wie war noch mal die Frage?«
»Du hast etwas von einer Suche erzählt … Hast du nach mir gesucht?«, fragte er behutsam.
Oh, Mann! Das würde jetzt richtig peinlich werden! »Ähm … ja. Es war eine Art Herausforderung. Ich wollte sehen, ob ich ein Jahr lang meinem Herzen folgen kann. Das Problem war, dass die Sache eine Art Eigenleben entwickelte und immer größer und größer wurde. Zuerst war es nur ein Blog, und dann schrieb eine Journalistin einen ziemlich gemeinen Artikel über die ganze Suche, der sich im Netz verbreitete. Als der Journalistin klar wurde, was sie damit angerichtet hatte, schrieb sie noch einen positiven Artikel, woraufhin noch mehr Leute meinen Blog lasen, und dann hat meine Tante eine Teestube eröffnet, wo viele, die Fans meines Blogs waren, nun häufig zu Gast sind …«
Ich wusste in dem Moment nicht, was schlimmer war: mich vor dem Objekt meiner Suche quasi zu entblößen oder der extrem verwirrte Ausdruck auf seinem sagenhaft hübschen Gesicht.
»Ein Blog? Und eine Teestube …?« Seine Augen wurden groß: »Warte, du bist doch nicht etwa die Frau von dem Es-begann-mit-einem-Kuss -Blog, oder?«
Erwischt! Ich senkte den Kopf: »Doch, das bin ich.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Issie liegt mir seit Wochen mit diesem Blog in den Ohren. Sie sagte, sie habe sich mit der Frau oft ausgetauscht und wahnsinnig viel positiven Input erhalten während der Zeit in der Physio, als sie das Laufen wieder neu lernen musste. Sie hat mir den Link geschickt, als sie im Krankenhaus war, und ich sollte ihn unbedingt lesen, aber ich verstand überhaupt nicht, warum. Ich dachte, das wäre nur wieder eine ihrer Marotten und habe mich nicht weiter damit beschäftigt.«
Moment mal: Issie?
»Wie ist ihr Benutzername?«
»Ysobabe8. Na ja, ziemlich doof, und ich zieh sie damit auch immer auf.«
Na, toll! Das Ziel meiner Suche erhielt Links zu meinem Blog von seiner zukünftigen Frau, mit der ich monatelang gechattet hatte – und die ich unglaublich sympathisch fand. Von all meinen Lesern war Ysobabe8 diejenige gewesen, der ich mich am stärksten verbunden gefühlt hatte. Ihr unermüdlicher Zuspruch hatte mir gerade in den letzten Monaten meiner Suche sehr geholfen. Das wurde ja immer besser.
»In Anbetracht der Situation war es ja nur richtig, dass du den Blog nicht gelesen hast.«
»Welcher Situation? Dass sie unwissentlich Kontakt mit jener Frau hatte,
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