Und dennoch ist es Liebe
zu Nicholas umdreht. »Du Lügner«, flüstert sie. »Das ist nicht mein Sohn.« Und sie läuft aus dem Raum und den Flur hinunter.
K APITEL 42
P AIGE
Sie haben ihn umgebracht. Er ist so still und blass und winzig, dass es keinen Zweifel gibt. Wieder einmal hat ein Baby nicht überlebt, und ich trage die Schuld.
Ich laufe aus dem Zimmer, in dem sie Max aufgebahrt haben, die Treppe hinunter und durch die nächstbeste Tür, die ich finden kann. Ich ersticke, und als die automatische Tür aufgleitet, sauge ich gierig die Nachtluft von Boston ein. Ich kann einfach nicht genug davon bekommen. Ich fliege die Cambridge Street hinunter, vorbei an Teenagern in neonbunten Lumpen und knutschenden Pärchen – Rhett und Scarlett, Cyrano und Roxanne, Romeo und Julia. Eine alte Frau mit pflaumenfarbener Haut hält mich mit ihrer faltigen Hand fest. »Spieglein, Spieglein an der Wand«, sagt sie. »Nimm das, Liebes.«
Die ganze Welt hat sich verändert, während ich im Krankenhaus war. Oder vielleicht bin ich gar nicht die, für die ich mich halte. Vielleicht ist das hier ja das Fegefeuer.
Die Nacht stürzt sich auf mich herab und packt mich an den Füßen. Wenn ich lache, weil meine Lungen zu platzen drohen, dann hallt mein Schreien in den dunklen Straßen wider. Ja , denke ich, jetzt fahre ich in die Hölle.
Irgendwo im Hinterkopf weiß ich, wo ich bin. Das ist das Geschäftsviertel von Boston, wo es an Werktagen von Schlipsträgern und Hotdog-Verkäufern nur so wimmelt, doch abends und nachts ist das Government Center nur eine graue Ödnis. Ich bin der einzige Mensch hier. Im Hintergrund höre ich Tauben flattern. Es klingt wie ein schlagendes Herz.
Ich bin mit einem Ziel hierhergekommen. Ich denke an Lazarus und Christus. Es ist einfach nicht richtig, dass Max für meine Sünden sterben soll. Mich hat nie jemand gefragt. Doch heute Nacht bin ich bereit, meine Seele für ein Wunder zu geben.
»Wo bist du?«, flüstere ich und ersticke an meinen eigenen Worten. Zum Schutz vor dem Wind, der über die Plaza fegt, schließe ich die Augen. »Warum kann ich dich nicht sehen?«
Ich drehe mich wie wild im Kreis. »Ich bin mit dir aufgewachsen«, schreie ich. »Ich habe an dich geglaubt. Ich habe dir vertraut. Aber du bist kein gnädiger Gott.« Wie zur Antwort pfeift der Wind an den schimmernden Fassaden der Geschäftshäuser entlang. »Als ich deine Kraft gebraucht habe, warst du nie da. Als ich um deine Hilfe gebetet habe, da hast du dich von mir abgewandt. Ich wollte dich doch nur verstehen«, rufe ich. »Ich wollte doch immer nur Antworten.«
Ich falle auf die Knie und spüre den unnachgiebigen Beton, feucht und kalt. Dann hebe ich mein Gesicht gen Himmel. »Was für eine Art Gott bist du eigentlich?«, sage ich und sinke auf dem Bürgersteig förmlich in mich zusammen. »Du hast mir meine Mutter genommen. Du hast mich gezwungen, mein erstes Baby aufzugeben. Und du hast mir mein zweites Kind gestohlen.« Ich reibe die Wange über den rauen Beton und spüre, wie er meine Haut aufschürft und Blut fließt. »Ich habe keines von ihnen je wirklich gekannt«, flüstere ich. »Wie viel kann ein Mensch ertragen?«
Ich kann ihn fühlen, bevor ich den Kopf hebe. Er steht direkt hinter mir. Und als ich ihn sehe, eingerahmt vom heiligen Licht des Glaubens, da ergibt plötzlich alles einen Sinn. Er ruft mich beim Namen, und ich werfe mich in die Arme des Mannes, von dem ich schon immer gewusst habe, dass er mein Retter ist.
K APITEL 43
N ICHOLAS
»Paige«, sagt Nicholas, und sie dreht sich langsam um. Ihr Schatten nähert sich ihm zuerst. Dann tritt sie vor und fällt direkt gegen ihn. Einen Augenblick lang weiß Nicholas nicht, was er tun soll. Wie von selbst schließen sich seine Arme um sie. Er vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar. Es duftet, ist warm und sträubt sich an den Rändern, als wäre es lebendig. Er ist erstaunt, dass sich das nach all der Zeit einfach nur richtig anfühlt.
Nicholas kann sie nur zum Gehen bewegen, indem er den Arm um ihre Schulter legt und sie mehr oder weniger vorwärtsschleppt. Paiges Augen sind geöffnet, sie scheint Nicholas anzuschauen, ohne ihn zu sehen. Ihre Lippen bewegen sich, und als sie sich eng genug an ihn lehnt, kann er ein Flüstern hören. Es hört sich an wie ein Gebet.
Auf den Straßen von Boston wimmelt es von Maskierten: Elvira und der Lone Ranger, PLO-Terroristen und Marie Antoinettes. Ein großer Mann, der wie eine Vogelscheuche verkleidet ist, hakt sich auf Paiges anderer
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