Und eines Tages kommt das Glück
Veranda ab und holte ihr Handy aus der Tasche. Dann wählte sie die Nummer ihrer Mailbox und hörte die Nachricht ab, die darauf hinterlassen worden war.
»Ich bin’s.« Sie erkannte sofort die Stimme ihres Bruders Darragh (Halbbruder, korrigierte sie sich, und zwar die aufgeblasene Hälfte!). »Hör mal, wir brauchen dich. Es wäre gut, wenn du aufhören würdest, dich in der Weltgeschichte herumzutreiben, und für eine Weile nach Hause zurückkommst. Mam muss bald ins Krankenhaus, sie wird operiert. Du weißt ja – oder auch nicht, weil du ja nicht unbedingt die Kontaktfreudigste bist –, dass sie schon seit einer Weile ziemliche Rückenschmerzen hat und dass es immer schlimmer wird. Also, jetzt wollen sie sie operieren, und sie braucht jemanden, der ihr hilft. Melde dich.«
Romy hatte sich die Nachricht ein paarmal angehört. Keine Frage danach, wie es ihr ging. Keine Fragen nach ihrem Beruf oder ihrem Privatleben. Es war ein Befehl, nach Hause zu kommen. Es war so verdammt typisch von Darragh, sich einzubilden, dass er ihr Vorschriften machen könnte. Dass er ihr befehlen könnte! Romy spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Er hatte schon immer die Macht besessen, sie wütend zu machen. Sie alle – Darragh, Kathryn und natürlich Veronica.
Romy überlegte, ob sie wohl einen Hinweis von Veronica über den Zustand ihres Rückens überhört hatte, aber selbst bei genauester Überlegung war ihr nicht in Erinnerung, dass ihre Mutter diesen Umstand je besonders hervorgehoben hätte. In ihren E-Mails und bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie persönlich miteinander gesprochen hatten, hatte sie zwar manchmal über Rückenschmerzen geklagt, aber diese Anspielungen waren im üblichen Gejammer ihrer Mutter einfach untergegangen. Normalerweise begann ein Gespräch mit ihr mit einem hypochondrischen Hinweis auf ihre Migräne, einen unspezifischen Virus oder irgendwelche Beschwerden (die beim nächsten Mal aber schon wieder vergessen waren). Danach ging Veronica zu allgemeiner gehaltenen Nörgeleien über, die gewöhnlich auch Romy (die kaltschnäuzigste Tochter der Welt) und deren Vater mit einschlossen, denn hätte er Veronica nur halb so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie seiner neuen Ehefrau, hätten sie sich vielleicht nie scheiden lassen. Und dann ihr schreckliches Los, so einsam zu sein – kein Mensch kümmere sich darum, dass sie ganz allein in dem großen Haus leben müsse. Und so weiter und so fort.
Normalerweise gelang es Romy, sich rechtzeitig zu bremsen und ihrer Mutter nicht entgegenzuhalten, dass sie der gesündeste Mensch sei, den sie kenne, und auch nicht einsam, da sie Hunderte von Freunden und Bekannten und ein reges Gesellschaftsleben habe. Damit hätte sie nur einen Streit provoziert, und sie war es leid, mit ihrer Mutter zu streiten. Romy gefiel sich in der
Vorstellung, dass sie der ewigen Streiterei mit Veronica entwachsen und reif genug war, ihre Unstimmigkeiten zu vergessen (auch wenn sie natürlich absolut recht hatte, dass an ihrem Streit nur Veronica schuld war). Außerdem war es sinnlos, sich zu streiten. Dabei wurden nur alte Wunden aufgerissen, Schuldgefühle erneuert und unterschwelliger Kummer neu belebt, und wozu sollte das gut sein? Da war es leichter, sich von alledem fern und die Gespräche kurz zu halten. Wenn Veronica also anfing, wieder einmal über Schmerzen zu klagen, riet Romy ihr, eine Tablette zu nehmen, und falls das Haus zu groß für sie sei, solle sie es einfach verkaufen und sich eine Wohnung zulegen. Woraufhin Veronica ihr stets Herzlosigkeit vorwarf, schließlich stecke ihr ganzes Leben in diesem Haus. Das wisse Romy doch ganz genau. Sie könne es nie und nimmer verkaufen.
Eine bunte Mischung aus Erinnerungen und Emotionen überflutete Romy, als sie darüber nachdachte, was Darragh ihr auf Band gesprochen hatte. Ignorieren konnte sie den Anruf nicht, aber sie musste ihre ganze Kraft zusammennehmen, um ihn zu erwidern. Und so wählte sie schließlich Darraghs Nummer, auch wenn es in Irland noch früh am Morgen und eine ungewöhnliche Zeit zum Telefonieren war. Ihr Halbbruder war sicher bereits wach und auf den Beinen. Darragh war Geschäftsmann. Er selbst bezeichnete sich zwar als Unternehmer, aber Romy bezweifelte, dass dies eine zutreffende Bezeichnung war. Ein Unternehmer war ihrer Meinung nach ein Mensch, der ein Geschäft aufbaute und Risiken einging. Darragh hatte sein Unternehmen geerbt, und ein Risiko war er in seinem ganzen Leben noch nicht
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