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Und führe uns nicht in Versuchung

Und führe uns nicht in Versuchung

Titel: Und führe uns nicht in Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Bleibtreu
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fragend an:
    «Was paßte nicht – daß er sich für fremde Kulturen interessierte?» Christian schüttelte den Kopf. «Nein, das hat er immer getan, allerdings kühl, fast sezierend. Aber dieser Satz, den hat er so warm ausgesprochen, das kannte ich an ihm gar nicht. Sonst war er immer kühl, fast wie mit Eis gepanzert. Warm – das war neu. Ich glaube, den Thailändern ist gelungen, was hier niemandem gelungen ist – sie haben sein Herz berührt.» Auch seine Stimme hatte einen warmen Klang gewonnen. «Glauben Sie, daß das auch weiter ging, offen gesagt: Hat er Sex gesucht in Thailand?» fragte Susanne. «Nein!», entschieden wehrte Christian Vogel ab, sein ‹Nein› hatte wieder den unangenehmen Quäkton angenommen. Offenbar wollte er seinen Onkel verteidigen. «Das wäre nicht sein Stil gewesen, Kinderprostitution fand er nur widerlich, und er hat es immer abstoßend gefunden, wenn Menschen die Schwächen anderer ausgebeutet haben. Er selbst war ja auch eher daran interessiert, Stärken zu fördern, ob einem das paßte oder nicht.» Susanne gab zu bedenken: «Er könnte ja auch einen erwachsenen Menschen gefunden haben.» Christian antwortete trocken: «Sie meinen, ob er schwul war? Ich glaube, das Kapitel Sex hat ihn nie wirklich berührt, ob so oder so herum, und er hatte einen viel zu klaren Blick für die Schwächen seiner Mitmenschen, um sich und sein Leben einem einzelnen Menschen anzuvertrauen. Vielleicht, wenn er sich selbst ein perfektes Gegenüber hätte schaffen können, dann wäre eine Beziehung möglich gewesen. Ich glaube auch nicht, daß er in Thailand eine Beziehung begonnen hat. Es war etwas anderes.» Er suchte nach den richtigen Worten. «Es war», er atmete tief durch, «wie eine Bekehrung. Sonst war er es ja, der bei anderen den Durchblick hatte. Und plötzlich, so stelle ich mir das jedenfalls vor, waren andere hellsichtig oder hatten den Durchblick in sein Herz. Was weiß ich, was sie da entdeckt haben, aber es hat ihn verwandelt. Ich glaube, er wollte hier alle Zelte abbrechen und ganz nach Thailand ziehen. Er hat mir nichts Konkretes erzählt, nur, daß er sein Haus in Gonsenheim verkaufen will und bei Mainz-Glas aufgehört hat. Ich nehme einfach an, er wollte ganz weg.» Christian schwieg. Dann fuhr er fort: «Eigentlich schade, daß er ausgerechnet dann ermordet wurde, als er sein Lebensglück gefunden hatte.» «Vielleicht ist er ja gerade deshalb ermordet worden», meinte Susanne nachdenklich.

    * * *

    Es war nicht passiert. Es konnte nicht passiert sein, weil sich nichts geändert hatte. Niemand war gekommen und hatte etwas nachweisen können, niemand wußte, was tatsächlich geschehen war. Wußte wirklich niemand etwas, ahnte keiner die Wahrheit? Es war wohl so. War es möglich, daß die Stimme verraten könnte, wie es war? Die anderen müßten sie doch auch hören, so deutlich, so scharf, so traurig, so spöttisch, und immer wieder bittend:
    «Tu’s nicht, tu’s nicht.» Warum war sie vorher nicht so deutlich gewesen, diese Stimme? Warum hatte sie vorher nicht gewarnt? Und – wer hörte ebenfalls diese Stimme? Sie mußte doch von anderen gehört werden. Das war doch sonst verrückt. War es verrückt? War das der Irrsinn? Das war nicht möglich, das Leben lief doch ganz normal weiter, niemand merkte etwas. Jedenfalls nicht das Entscheidende. Hörten sie denn nicht die Stimme? Nicht einen Laut? Nicht einmal den Ton, dieses Geräusch, mit dem der Nagel durch das Fleisch fuhr? Sie mußten es hören. Und wenn sie es nicht hörten, dann war es wohl tatsächlich nicht wahr!

    * * *

    Christian Vogel holte aus seinem Arbeitszimmer einen DIN-A4-Rahmen aus schlichtem, dunklem Holz. «Ich bin ganz überrascht, daß ich das in dem Chaos, das die Einbrecher hinterlassen haben, tatsächlich entdeckt habe. Es war auf der anderen Seite aber auch nicht so schwer, die Urkunde hing im Flur. Sie wollten doch seinen Konfirmationsspruch wissen, hier ist er: ‹Und führe mich nicht in Versuchung.› Können Sie damit etwas anfangen?» Susanne dachte nach: «Ich weiß es noch nicht», antwortete sie offen, «aber ich will dieses Wort auf jeden Fall in die Trauerfeier einfügen, wenn es ihm so wichtig war, daß er die Urkunde aufgehängt hat.» Susanne nahm den Rahmen mit der Urkunde vorsichtig entgegen und sichtete ihre Notizen. «So, Herr Vogel, jetzt muß ich mir noch ein paar Daten notieren. Also, Ihr Onkel, Steffen Vogel, wurde geboren am 20. Juni 1952. Wo?» «In Berlin», antwortete

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