Und führe uns nicht in Versuchung
nicht an, sein Blick war in weite Fernen gerichtet. «Ich war zehn Jahre alt, und ich habe geschrieen und ihn angefleht, mich ins Boot zu ziehen. Aber er hat nur gerufen: ‹Schwimm doch!› Dann bin ich geschwommen, bis zum Ufer. Da hat er mir dann strahlend gratuliert, mich umarmt und mir 100 Mark geschenkt. 100 Mark, was das für eine Riesensumme für mich war! Und ich war dann ja auch stolz, daß ich es geschafft hatte.» Christian Vogel klang bitter. «Aus eigenem Antrieb hätte ich mich das nie getraut. Aber es blieb eben dieses merkwürdige Gefühl, daß …» Er überlegte, Susanne wartete geduldig. Sie hatte in langen Berufsjahren die Erfahrung gemacht, daß viel darauf ankam, warten und schweigen zu können. Menschen brauchten ihre Zeit, wenn sie ihr Herz einem anderen öffneten. Plötzlich begann Christian Vogel zu weinen, es brach regelrecht aus ihm heraus. Er schluchzte, suchte vergeblich nach einem Taschentuch, murmelte eine Entschuldigung und verschwand aus dem Zimmer. Kurz darauf kam er mit einer Packung Papiertaschentücher zurück. Er schneuzte sich, aber die Tränen schimmerten immer noch in seinen Augen. «Entschuldigen Sie bitte, ich weiß auch nicht, was das jetzt ist.» In seiner Stimme klang noch sein Weinen nach. Susanne legte ihm leicht die Hand auf den Arm, sie spürte, daß in Christian eine ganz alte Wunde neu aufgebrochen war. Sie sagte sanft: «Herr Vogel, ein Mensch, mit dem Sie lange verbunden waren, ist gestorben, noch dazu auf grausame Art und Weise. Auch wenn Sie zuletzt kein gutes Verhältnis hatten, da sind doch viele Erinnerungen. Da darf ein Mensch doch weinen.» Christian schluchzte erneut auf. «Die Sache mit dem Laacher See, wissen Sie, ich habe immer gedacht, was passiert wäre, wenn ich es nicht geschafft hätte, eigentlich ein irrer Gedanke, er hätte mich ja nicht ertrinken lassen können, einen Bub von zehn Jahren. Aber etwas Gefährliches war dabei, ich hatte einfach nicht das Gefühl», er weinte wieder stark, schneuzte sich, fand dann seine Stimme zurück,
«daß er das getan hat, weil er mich lieb hat. Ich hatte immer das Gefühl, er testet mich. Das tut so weh, auch wenn das nun schon so lange her ist.» Die Tränen strömten wieder über das weichliche Gesicht. Christian Vogel brauchte noch einige Zeit, bis er sich wieder gefangen hatte. Er erzählte Susanne, wie sein Onkel ihn gefordert und gefördert hatte, wie er enttäuscht war, daß Christian nach einem mittelmäßigen Abitur im Studium scheiterte, und wie er ihm, widerwillig, einen Ausbildungsplatz bei Mainz-Glas vermittelt hatte. Dort war Christian nicht lange geblieben, die Nähe zu seinem Onkel war zu belastend für den jungen Mann. «Ich war ihm einfach zu weich, Versuchsreihe gescheitert, sozusagen, das hat er mich schon spüren lassen. Ich habe mir dann was Neues gesucht, nichts Großartiges, ich arbeite heute im Büro von Kalldewei-Transporte. Das hat ihn auch nicht überzeugt. Er meinte, ich hätte mehr Potential, und das stimmt wohl auch. Aber bei Kalldewei fühle ich mich sicher, und das brauche ich. Onkel Steffens Anforderungen waren einfach zu viel für mich.» Christian Vogels Stimme wurde fester, Susanne spürte, wie es ihm auch gut tat, sich zu erinnern.
«Onkel Steffen selbst war ja immer perfekt, allein schon diese grandiose Entdeckung, ohne ihn hätte Mainz-Glas nie dieses Glas entwickeln können. Das war aber nicht der einzige Bereich, in dem er glänzte. In allen Bereichen, die ihn wirklich interessierten, brillierte er bald durch profundes Wissen. Er war perfekt, bis in die Details des täglichen Lebens. Er ging nicht einfach essen, er zelebrierte ein Menü. Das ging so weit, daß er zum freien Mitarbeiter vom Amuse Gueule wurde. Das erledigte er so nebenbei – Restaurantkritiken. Woran andere jahrelang arbeiteten, das flog ihm einfach zu. Er erkannte genau, wo Potential war, und er schmeckte erbarmungslos die Schwächen eines Kochs heraus. So wie er einen klaren Blick für die Talente und Schwächen seiner Mitarbeiter hatte. In seinem Team arbeiteten die Besten der Firma. Er wählte seine Mitarbeiter genau aus, manchmal war es den Vorgesetzten noch gar nicht aufgefallen, was für einen ‹Edelstein› sie unter sich hatten. Onkel Steffen erkannte das fast sofort. Er war ein richtiger Talent-Scout. Und er schuf für seine Leute die besten Arbeitsbedingungen.» Er wurde nachdenklich.
«Gemocht haben sie ihn dennoch nicht, da war eine unsichtbare Mauer. Aber geschätzt gewiß, und
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