Und führe uns nicht in Versuchung
ein Taschentuch heraus. «Hier, bitte», sein Blick fiel auf Susannes Schuhe, in allen Regenbogenfarben changierendes Schlangenleder, war das echt? Der Absatz hatte mindestens 8 Zentimeter. «Was haben Sie eigentlich mit den anderen Schuhen gemacht?» fragte er nachdenklich. «Wie bitte?» «Schon gut», Weimann riß sich von den Schuhen los. «Warum wollen Sie eigentlich aus Mainz weg?» erkundigte er sich. «Ich verstehe natürlich, daß Sie die Erinnerung belastet, aber ich bedauere es sehr, eine so kompetente und flexible Kollegin zu verlieren. Wollen Sie es sich nicht noch mal überlegen?» «Ja, aber aber …», Susanne kam ins Stottern. «Muß ich denn nicht weg?» «Warum sollten Sie denn wegmüssen?» wunderte sich Weimann. «Sie haben doch nichts verbrochen!» «Aber ich war doch die Freundin von Jens, und jetzt liegt er im Krankenhaus und im Prozeß werde ich auch aussagen müssen und jeder weiß Bescheid …» Die Tränen flossen wieder in Strömen. «Frau Hertz», Weimann wurde streng, «jetzt reißen Sie sich mal zusammen. Sie haben weder einen Menschen umgebracht noch ihn in Einzelteile zerlegt, noch seine Hand vor der 14-Nothelfer-Kapelle angenagelt.» «Jens ist aber schwer verletzt, und auf einem Auge ist er fast blind», heulte Susanne. «Das war ja wohl Not wehr, er wollte Sie schließlich erwürgen.» Weimanns Blicke wanderten unwillkürlich zurück zu den Schlangenleder-Schuhen. Jens Maistrom hatte in der Tat Glück gehabt, daß er die Sache überlebt hatte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte das Susanne rettende Exemplar Stahlabsätze gehabt. Er schüttelte sich ein wenig. «Ich erinnere mich an gar nichts mehr», meinte Susanne, «und ich weiß auch nicht, ob ich traurig oder erleichtert oder entsetzt sein soll, es ist ein komplettes Gefühlschaos. Meinen Sie das ernst, daß ich nicht weg muß?» «Frau Hertz», jetzt war Weimann ganz väterlich, «Sie machen jetzt erst mal Urlaub, und dann fangen Sie mit frischen Kräften wieder an. Das wird sich schon sortieren. Irgendwas wird der HERR sich schon bei der ganzen Sache gedacht haben, auch wenn ich nicht genau weiß, was. Aber gewiß wird Sie die Angelegenheit innerlich reifen lassen. Haben Sie schon eine Idee, wo Sie sich so richtig erholen können? Wie wäre es mit Malta, da sind Sie doch wie zu Hause!» «Das wäre eine Idee», Susanne schniefte noch ein bißchen, aber sie schaute schon zuversichtlicher in die Welt. «Auf Malta hat schließlich schon einer nach einem Mord Zuflucht gefunden», fiel es Weimann ein, «Sie kennen doch gewiß die Geschichte Caravaggios, des berühmten Malers.» «Nein, kenne ich nicht», mußte Susanne zugeben. Dr. Weimanns Augen begannen zu leuchten, bei Caravaggio ging ihm immer das Herz auf. «Also, der große Künstler mußte aus Italien fliehen und kam zu den Rittern auf Malta, leider hat sein aufbrausender Geist auch dort einen längeren Aufenthalt verhindert. Aber in Valletta können Sie noch sein Meisterwerk, die ‹Enthauptung des Johannes›, besichtigen. Wie das Licht auf das Schwert fällt …», Weimann strahlte vor Begeisterung, er kam richtig in Fahrt, «wie Caravaggio den Moment einfängt, in dem das Blut aus dem Hals strömt …» Erst jetzt fielen ihm die erschrocken weit aufgerissenen Augen seiner Gesprächspartnerin auf. «Oh, entschuldigen Sie, Frau Hertz, wie unsensibel von mir!» Susanne war etwas blaß im Gesicht geworden. «Vielleicht, äh, schauen Sie sich das Bild ein anderes Mal an, es lohnt sich auf jeden Fall, aber wohl nicht im Moment …» Weimann verlor den Faden, sammelte sich dann und fuhr entschlossen fort: «Und wenn Sie wieder da sind, dann sprechen wir über die Vakanz in Mainz-Finthen. Ein hübsches kleines Kirchlein, Obstbauern, Spargelfelder und seit Menschengedenken kein Verbrechen außer Kirschenklau. Sie werden sehen, in ein paar Monaten sieht die Welt schon ganz anders aus.»
«Aber was die Finther zu bunt changierendem Schlangenleder sagen, das weiß ich nicht», dachte Weimann, nachdem er sich von Susanne verabschiedet hatte und während ihre Absätze noch vernehmlich durchs Dekanatsbüro klapperten. «Wir werden sehen.»
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