Und führe uns nicht in Versuchung
Haarschnitt, mit dem sie sich wohl fühlte.
Sie trug gern sportliche Kleidung, abends konnte es auch mal richtig schick sein. Sie hätte gerne eine Kleidergröße weniger und hatte schon alle möglichen Diäten ausprobiert, die jedoch keinen langfristigen Erfolg hatten. Sie hatte einen Schuhtick und konnte an einem witzigen Paar einfach nicht vorbeigehen. In ihrer Wohnung zeugten vier prallgefüllte IVAR-Regale von dieser Leidenschaft. Wenn eine Sohle nur einen Hauch schiefgelaufen erschien, rannte sie sofort zum einzigen Menschen, dem sie ihre Schuhe anvertraute, einem Schuster in der Schulstraße in Mainz-Gonsenheim, der auch alte Lieblingsstücke wieder in Form bringen konnte.
Das einzige, was Susanne einfach schön an sich fand, waren ihre usambaraveilchenblauen Augen, die in reizvollem Kontrast zu ihren braunen Haaren standen («Eine der sieben Schönheiten – blaue Augen und braune Haare», sagte ihre Mutter immer). Sie hatte große, weit auseinanderstehende Augen mit dichten Wimpern und Augenbrauen, die deutlich und klar wie gezeichnet waren, nie mußte Susanne ihre Brauen in Form zupfen.
Im Moment waren diese schönen Augen aber vom Weinen gerötet und geschwollen. Und ihre Stimme klang noch ziemlich schwach, als Tanja abends anrief und über den Fortgang der Ermittlungen berichtete.
«Wir mußten den Lennebergwald komplett abriegeln, kannst du dir vorstellen, was für ein Aufwand das war?» Tanja klang erschöpft. Sie war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und was sie erlebt hatte, war selbst für eine erfahrene Polizistin wie sie schwer zu ertragen gewesen. Mit Leichenspürhunden hatten sie den Wald systematisch durchkämmt und nach und nach fast alle Teile der Leiche gefunden. Es war eine ekelhafte und mühsame Arbeit gewesen. Tanja mochte nicht darüber nachdenken, was mit den noch fehlenden Gliedmaßen geschehen war. Den Kopf hatten sie in der Nähe eines Spielgeländes gefunden, die Kommissarin war froh, daß kein Kind diesen grausigen Fund gemacht hatte. Der Kopf erhöhte aber die Wahrscheinlichkeit der Identifizierung. Jetzt gingen sie die Vermißtenanzeigen durch, am folgenden Tag sollte in beiden Mainzer Zeitungen und in den Lokalbeilagen der überregionalen Blätter eine Zeichnung des Gesichts veröffentlicht werden. Tanja hoffte auf eine schnelle Identifizierung, denn sie wußte, daß die ersten Tage nach einem Verbrechen die entscheidenden waren. Jede Verzögerung verringerte die Chancen, den Täter oder die Täterin zu ermitteln. Dann drängte Tanja Susanne dazu, das Laufen nicht wegen der schrecklichen Ereignisse des Tages aufzugeben. «Im Gegenteil, du mußt gerade jetzt laufen, das ist wie nach einem Unfall – wenn du da nicht wieder Auto fährst, traust du dich nie wieder. Paß auf, sobald ich Luft habe, rufe ich dich an und wir laufen gemeinsam.» Zögernd stimmte Susanne zu. Sie wußte, daß Tanja recht hatte, aber ihr war schon übel bei dem Gedanken, an der 14-Nothelfer-Kapelle vorbeilaufen zu müssen. Sofort stand das Bild der angenagelten Hand wieder vor ihrem inneren Auge, und sie war froh, daß sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
* * *
Tanja Schmidt war mit ihrem Kollegen Arne Dietrich nach Mainz-Gonsenheim unterwegs. Die Veröffentlichung des Fotos in der AZ hatte den entscheidenden Hinweis gebracht. «Es ist bestimmt mein Onkel Steffen Vogel», erklärte ein Christian Vogel am Telefon. «Ich habe ihn nicht vermißt, weil ich dachte, er wäre spontan nach Asien geflogen. Er arbeitet ja nicht mehr, und wir hatten nicht so ein enges Verhältnis, daß er mich über jeden seiner Schritte informiert hätte. Also, mein Onkel heißt Steffen Vogel, er hat bis vor kurzem bei Mainz-Glas als Leiter eines Entwicklungsstabs gearbeitet und wohnt in der Friedrichstraße in Mainz-Gonsenheim.» Nein, er habe keinen Schlüssel zum Haus seines Onkels, er habe ja gesagt, daß er kein wirklich enges Verhältnis zu seinem Onkel hatte. Christian Vogel erklärte sich bereit, seinen Onkel zu identifizieren, er müsse jetzt zur Arbeit und käme gleich am Nachmittag. Tanja und Arne machten sich umgehend auf den Weg, um das Haus von Steffen Vogel zu durchsuchen. Vielleicht würde sich dort ein Hinweis auf Motiv und Täter finden. Das Haus in der Friedrichstraße wurde durch eine hohe Buchsbaumhecke vor neugierigen Blicken geschützt. Tanja und Arne schlossen ihren Opel ab und versuchten vergeblich, durch das dichte Grün zu schauen. «Die perfekte Einladung an Einbrecher, da hilft auch die
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