0520 - Das blaue Einhorn
»Nein!« schrie Nicole auf. »Tu es nicht!« Sie versuchte noch, Stygia in den Arm zu fallen, aber sie war viel zu langsam. Sie konnte nichts mehr verhindern. Innerhalb von Sekundenbruchteilen flammte das Einhorn auf und verglühte. Nicole richtete sich auf; sie war schweißgebadet und starrte in die Dunkelheit.
»Licht«, sagte sie mit belegter Stimme und fügte einen Pfeiflaut hinzu; die Deckenbeleuchtung ihres Zimmers wurde elektronisch hochgedimmt.
Die Traumlandschaft war fort. Das Einhorn und die Dämonin waren fort. »Ich habe geträumt«, murmelte Nicole. »Es war nur ein Traum. Nur ein Traum…«
Sie erhob sich. Es war fünf Uhr früh und draußen noch stockfinster. Vor etwas über einer Stunde hatte Nicole sich hingelegt. Professor Zamorra hatte noch an einem Textblock für seine geplante Vorlesungsreihe an der Sorbonne arbeiten und ihn so gestalten wollen, daß er zur Not auch von einem Assistenten vorgetragen werden konnte, falls Zamorra selbst verhindert war. Immerhin mußte er damit rechnen, für wenigstens ein Drittel des Semesters auszufallen, weil er hinter irgendwelchen Dämonen herjagen mußte. An sich war es eine absolute Kateridee, sich wieder für ein Semester fest verpflichten zu lassen. Aber er hatte den Dekan vorgewarnt; der wußte, worauf er sich einließ, wenn er Zamorra wieder einen Lehrstuhl einräumte.
Und ein bißchen Abwechslung konnte auch nicht schaden.
Nicole hob die Bettdecke auf, die zu Boden gerutscht war, und warf sie achtlos aufs Laken. Sie verließ das Zimmer und schlenderte nachdenklich zum Bad hinüber, um sich den Schweiß von der Haut zu duschen.
Währenddessen fragte sie sich, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Warum ein Einhorn, und warum war es ausgerechnet blau ? Normalerweise sahen diese gehörnten Pferde schneeweiß aus. Außerdem waren sie so etwas wie ein Symbol für Reinheit und Jungfräulichkeit; Jungfrau war Nicole aber schon seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr. Was wollte dieser Traum ihr also sagen? Denn daß er etwas zu bedeuten hatte, war ihr klar - die Bilder würden sonst nicht immer noch in solcher Klarheit und Eindringlichkeit vor ihrem inneren Auge stehen. Sie konnte sich jedes winzige Detail der Landschaft in Erinnerung rufen. Gerade so, als wäre sie persönlich dort gewesen und hätte sich die Landschaft vollkommen verinnerlicht.
Und dann Stygias Anwesenheit in diesem Traum! Ausgerechnet die Fürstin der Finsternis! Sich so locker mit ihr unterhalten zu können, war einfach undenkbar. Sie waren Todfeinde; Stygia würde nichts unversucht lassen, Nicole zu töten, wie sie auch mit allen Mitteln Zamorra umzubringen versuchen würde. Jede andere Vorstellung war absurd. Der Traum war eine Verrücktheit in sich.
Nicole frottierte sich ab und machte sich dann auf den Weg zu Zamorras Arbeitszimmer. Sie wollte nachsehen, ob er noch arbeitete und mit ihm über den Traum sprechen Schließlich war er nicht nur ihr Lebensgefährte, sondern auch Professor für Parapsychologie. Und zu diesem Wissenschaftsbereich gehörten eben auch Träume.
Während Nicole über den Korridor schritt, kam ihr Château Montagne plötzlich übergroß und auch ein wenig fremd vor. Dieses Gefühl hatte sie noch nie zuvor verspürt.
***
Unvermittelt tauchte das Einhorn zwischen den dunklen, schroffen Felsen auf, verharrte und hob witternd den Kopf. Das lange, gerade Horn auf seiner Stirn schien in der Abenddämmerung zu leuchten.
»Es ist wunderbar«, flüsterte Patricia Saris. Sie betrachtete verträumt den schönen, kräftigen Pferdekörper, das samten schimmernde, weiche blaue Fell, und sie fühlte sich auf rätselhafte Weise zu dem Einhorn hingezogen, wollte es vor Gefahren schützen.
»Es kommt immer um diese Zeit hierher«, sagte die dunkelhaarige Frau, deren Stirn Teufelshörner besaß und deren Rücken fledermausähnliche Schwingen entsprangen.
»Warum?« fragte Patricia.
»Um zu sterben.« Und die Dämonin schleuderte einen funkelsprühenden Feuerball aus der Hand, der durch die Luft raste, das blaue Einhorn traf und dieses prächtige Geschöpf von einem Augenblick zum anderen auslöschte.
***
Fassungslos erwachte die schottische Lady, die mit ihrem Sohn Rhett, gerade mal ein Dreivierteljahr jung, und Butler William zum Dauergast im Château Montagne geworden war. Unwillkürlich knipste sie die Nachttischlampe an; auf den Dimmer-Pfeifton, der die Deckenlampe einschalten würde, verzichtete sie, weil sie den kleinen Rhett mit dem Geräusch nicht wecken
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