Kinder des Judas
Prolog
20. November 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 23.59 Uhr
I ch kenne die Melodie des Lebens.
Es ist nicht das Vogelgezwitscher, nicht das Rauschen des Windes in den Bäumen oder das Lachen der Kinder. Sie ist viel weniger kitschig.
Die Melodie des Lebens ist sehr eintönig, elektronisch. Sie variiert selten, und wenn doch, dann ist es meistens nicht gut.
Ich kenne jeden einzelnen Ton und bin doch immer wieder überrascht, wie unterschiedlich die Melodie von Männern, Frauen und Kindern gespielt werden kann. In einer Minute erschallt dieser Ton zwischen fünfzig und achtzig Mal, ein einfaches Metronom hält den Takt mal mehr, mal weniger gut.
Es kommt vor, dass andere Instrumente in die Melodie mit einstimmen. Auch sie klingen nüchtern und leidenschaftslos, ewig gleich. Nur der Mensch bestimmt, in welchem Rhythmus sie spielen, in welcher Weise sie einen Chor bilden. Und doch hat er in den seltensten Fällen Einfluss darauf.
Ich höre diese Melodie sehr gerne, denn sie bedeutet Leben.
Mehrmals in der Woche gehe ich in das besondere Opernhaus, in dem die Melodie des Lebens von zahlreichen Interpreten zum Besten gegeben wird. Niemand käme auf die Idee, sie vom Spielplan zu nehmen. Ich sitze immer in der ersten Reihe, dichter als ich kommen nur wenige Menschen an das Orchester heran. Dargeboten wird die Melodie stets von einem einzelnen Menschen. Alt, jung, arm, reich, Mann, Frau, das machtkeinerlei Unterschied. Jeder darf, auch wenn er es nicht immer möchte.
Ich sehe diesem einzelnen Musiker oft in die Augen, halte die Hand, wenn er zu aufgeregt ist, und rede ihm gut zu. Manche halten die Lider geschlossen, als würden sie selbst einem Lied lauschen; wieder andere träumen, wie ich an ihren Bewegungen erkennen kann.
Es gibt sehr viele Möglichkeiten, die Melodie zu spielen, und ich wage zu behaupten, dass ich sie alle kenne. Nein, sagen wir lieber: fast alle kenne.
Aber eines ist stets gleich – erst wenn der letzte Ton verklungen ist, gehe ich unter Tränen. Das bin ich dem Musiker schuldig.
Und die anschließende Stille weckt meinen Neid.
Heute ist der Musiker ein kleines Mädchen.
Ihr Name ist Thea. Sie ist elf Jahre alt, stammt aus Leipzig und hat sich lange geweigert, das Stück mit dem Orchester zu spielen. Gestern, vier Wochen nach ihrer Operation, ging es nicht mehr anders. Die Ärzte haben sie an die verschiedenen Monitore angehängt, um genau beobachten zu können, wie ihre Herzfrequenz ist, wie ihr Blutdruck sich verhält, was die verschiedenen Werte aussagen. Nicht, weil sie das Schlimmste befürchten, ganz im Gegenteil, sie sind voller Hoffnung. Sie haben Thea neue Medikamente gegeben, die helfen sollen. Es geht lediglich um Überwachung. Keiner sieht, was ich sehe, da helfen ihnen selbst ihre Maschinen nichts. »Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme«, haben sie den Eltern gesagt. Sie lügen nicht, sie glauben daran. Sie wissen es nicht besser – so wie ich.
Theas Gesicht ist schmal geworden, seit ich sie das erste Mal gesehen habe. Wenn man sich vorstellt, was diese arme Kreatur über sich ergehen lassen musste, ist es ein Wunder, dass sienoch immer Fleisch auf den Rippen hat. So wenig gegessen, so viel erbrochen.
Sie schläft tief und fest. Ein Zufall, dass der Krebs überhaupt festgestellt wurde, eine perverse Laune der Natur, wie schnell er gewachsen ist. Der Oberarzt sagte, dass ein so großer Tumor in einem so kleinen Köpfchen sehr selten ist. Ich bin mir nicht sicher, ob Thea und ihre Eltern einen ähnlichen Enthusiasmus beim Anblick von Befundwerten verspüren wie Professor Angerer. Er hat den Eltern nach der OP versprochen, dass alles in Ordnung kommt.
Ich sitze neben ihrem Bett, höre mit einem Ohr auf das Geräusch des elektronischen Orchesters und die Melodie des Lebens und konzentriere mich dann auf Theas Atemzüge. Sie sind ruhig und gleichmäßig. Noch.
Den Geruch nach Desinfektionsmittel und Ozon, der aus den Geräten dringt, bemerke ich schon gar nicht mehr, dafür bin ich zu oft auf solchen Stationen. Normale Besucher entwickeln schnell eine Abneigung dagegen.
Meine Hand berührt ihre zarten Züge, streichelt die bleiche Wange und schiebt die vorwitzige helle Haarlocke aus der Stirn, bevor sie auf die Nase rutscht und Thea kitzelt. Eine rot leuchtende Narbe an der Stirn ist das Andenken an den Eingriff. Sie erinnert mich unglaublich an das Gesicht eines Mädchens, das vor vielen, vielen Jahrhunderten gelebt hat und von dem ich Thea manchmal
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