Und immer wieder Liebe Roman
jetzt wird mir bewusst, dass meine Liebe zur Einsamkeit ernsthafte Gegenanzeigen haben kann: Du fehlst mir; das ist mittlerweile ein physischer Zustand geworden. Ich wollte lesen, aber nicht einmal dieses bewährte Mittel scheint zu wirken. Denk nur, Federico, wie man sich verändert, ohne es zu wollen. Als Kind habe ich am
Strand gelesen, in der prallen Sonne. Heute vertrage ich nicht einmal mehr das Licht, geschweige denn einen Liegestuhl oder Sonnencreme auf den Buchseiten. Nach meiner Scheidung habe ich es schätzen gelernt, im Bett zu lesen. Michele wollte damals eins ohne Kopfende – was dem Lesekomfort mehr als abträglich war. Ich möchte mal denjenigen sehen, der auf den Ellbogen gestützt oder auf dem Rücken liegend gut lesen kann. Wenn ich mich aber auf den Bauch drehe, zieht sich mein Hals wie der einer Schildkröte zusammen, und mein Magen wird zusammengequetscht, so dass selbst der spannendste Roman unverdaulich wird. Ich habe schon alles versucht: Seitenlage mit aufgestütztem Arm, sodass das Ohr in der Hand ruht. Das geht noch viel weniger – nach nicht einmal zehn Minuten kribbelt alles. Manche lesen ja auch auf der Toilette. Alberto hat Gabriella gebeten, ihm eine kleine Bibliothek zusammenzustellen, frei nach dem berüchtigten Wendekreisschwein Henry Miller, der ein Kapitel zum Thema »Lesen auf dem Klo« geschrieben hat. Wenn ich es recht bedenke, würde ich jetzt, da ich mich hier zu Hause eingeigelt habe, die Eisenbahn für den besten Ort zum Lesen halten. Die rollenden Räder – wenn es sich nicht um einen defekten Interregio handelt – schaukeln einen sanft hin und her, und nichts lenkt einen ab. Ich würde den Zug nehmen, wenn ich jetzt zu Dir fahren würde. Paris ist schließlich gar nicht so weit weg. Nach Jahren des Ausprobierens habe ich eine Methode des ruhigen (Michele würde sagen: neurotischen) Lesens perfektioniert. Ich sitze auf dem Sofa, und auf dem niedrigen Tisch vor mir dösen neue Bücher und ihre Gefährten: Bücher, die ich kurzzeitig geliebt und dann nie wieder aufgeschlagen habe, müde Bücher, ruhende Bücher, nie zu Ende gelesene Bücher, alles griff- und lesebereit. Sie sind mein Rettungsanker, wenn ich mich verloren fühle. Wie jetzt, da ich meine Lieblingsposition eingenommen habe: in die linke Sofaecke gekuschelt,
die Beine seitlich angewinkelt, so dass das Licht direkt auf die Seiten fällt. Auf Höhe der Lendenwirbel, die sich im Gegensatz zu ihren Nachbarn nicht durch Pilates deblockieren lassen, habe ich zwei Kissen zwischen mich und die Sofalehne gestopft. In Griffweite liegen das Plaid, Kakaobutter für die Lippen, und auf demTischchen steht eineThermoskanne mit Tee. Im Sommer ersetzt den heißen Tee eine Flasche Wasser oder eine Kanne kalter Tee. Zu jeder Jahreszeit kam noch ein Zehnerpäckchen Zigaretten dazu, aber nach dem letzten 10. April habe ich zu rauchen aufgehört und sämtliche Aschenbecher weggeworfen. Wenn ich irgendetwas von meinem Sortiment vergesse (wie jetzt, denn ich finde meine Brille nicht), dann macht mich schon der Gedanke nervös, dass ich, obwohl ich gerade durch London laufe oder ein verliebter Polizist spricht, unbedingt aufstehen und meine Sammlung komplettieren sollte. Du, Federico, bist eine aktive Person, während ich erst im Zustand der Faulheit zu Hochform auflaufe. Und wenn ich melancholisch bin, rühre ich mich nicht vom Fleck. Geduld ist mein Zeitmaß, Warten mein Luxus. Ich lese, weil ich Angst davor habe, etwas tun zu müssen, und wenn ich nicht weiß, wie ich etwas tun oder wie ich mich entscheiden soll, greife ich zu einem Buch. Ich öffne es an einer beliebigen Stelle und vergesse dann nach und nach alles um mich herum. Die Aufregung verliert sich zwischen den Seiten, und ich bin dem Buch dankbar, dass es mir die Panik nimmt, die sich wie eine unverdaute Speise auf Magenhöhe festsetzt. In der Geduld brüte ich Hoffnung aus, auch wenn ich mich frage, zu welchen Hoffnungen eine aus Worten und Fantasie zusammengesetzte Geschichte berechtigt. Was mich an dem hautnahen Umgang mit Wörtern fasziniert (früher habe ich sie mal in ein Notizbuch geschrieben), sind die Orte und Gerüche um sie herum, die Schnüre, die sich um sie legen und die ich gerne entwirre, weil es mir gut geht in ihrer Gesellschaft.
Jetzt verhelfe ich ihnen zu ihrem Recht, indem ich sie an Fremde verkaufe. Wie gesagt, blende ich alles um mich herum aus und vergesse den Rest der Welt sehr erfolgreich beim Lesen. Nur Dich nicht. Wegen Mattia bin ich nicht
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